Er hat noch viel Arbeit vor sich. Während der schnelle Zug an den leeren, versteppten Reservoirs des reinigenden Narmada vorbeistürzt und in die Nacht jenseits der Dörfer und Städte und verdorrten Wälder hineinrast, traumwandelt Thomas Lull. Ein alter bodenständiger Ausdruck von Lisa Durnau für Visionieren, für ungehindertes Phantasieren, wenn man sich zurücklehnt und die Gedanken bis zu den fernsten Grenzen des Möglichen abschweifen lässt. Diese Arbeit liebt er am meisten, und sie kommt der Art von Spiritualität am nächsten, zu der ein alter Heide wie Thomas Lull imstande ist. Es geht, denkt er, letztlich nur um Spiritualität. Gott ist unser eigener Geist, unser wahres, vorbewusstes Ich. Die Yogis haben es in all den Jahrtausenden völlig richtig erkannt. Die Ausarbeitung einer Idee ist niemals so aufregend wie das Feuer der Erschaffung, der Moment der brennenden Erkenntnis, wenn man urplötzlich über das absolute Wissen verfügt. Er beobachtet Kij, während Ideen durcheinanderpurzeln, zusammenstoßen und zerbrechen und erneut von der intellektuellen Gravitation zusammengezogen werden. Mit der Zeit werden sie zu einer neuen Welt verschmelzen, aber Thomas Lull weiß bereits genug, um sich ihre künftige Natur vorzustellen. Und davor hat er Angst.
Der Zug rast weiter und schiebt eine Bugwelle aus Licht in die Nacht, während er jede Stunde zweihundertachtzig Kilometer Indien verbraucht. Die Erschöpfung ringt mit der intellektuellen Begeisterung und kann sie schließlich bezwingen. Thomas Lull schläft ein. Er wacht erst beim kurzen Halt in Jabalpur auf, als der Zoll von Awadh eine flüchtige Grenzkontrolle durchführt. Zwei Männer mit Schirmmützen schauen Thomas Lull an. Kij schläft weiter, den Kopf in eine Armbeuge gekuschelt. Weißer Mann und westliche Frau. Unantastbare. Thomas Lull döst wieder ein, wacht einmal auf und erschaudert in urtümlicher, kindlicher Freude über das Rattern der Räder unter ihm. Er fällt in einen langen und unbesorgten Schlaf, der durch einen unplanmäßigen Ruck beendet wird, der ihn aus der Bewusstlosigkeit schmerzhaft gegen den Tisch wirft.
Gepäck stürzt aus den Ablagen über den Sitzen. Passagiere in den Gängen werden zu Boden geworfen. Schreie gehen in panisches Geplapper über. Der Shatabdi wird heftig erschüttert und noch einmal. Dann kommt er kreischend und zitternd zum Stehen. Die Stimmen steigern sich und verstummen. Der Zug steht reglos da. In den Lautsprechern knistert es, dann versagen sie ganz. Thomas Lull legt die Hände ans Gesicht und späht aus dem Fenster. Die ländliche Dunkelheit ist undurchdringlich, allumfassend, yonisch. In der Ferne glaubt er, Autoscheinwerfer zu erkennen, wippende Lichter, wie Taschenlampen. Jetzt kommen die Fragen, jeder fragt gleichzeitig, ob alle unversehrt sind, was geschehen ist.
Kij rührt sich murmelnd. Das Beruhigungsmittel ist wirksamer, als Thomas Lull erwartet hat. Jetzt wird er sich einer Wand aus Stimmen bewusst, die durch den Zug heranrückt, zusammen mit dem Gestank von brennendem Polycarbon in den Lüftungsrohren. Mit einer Hand schnappt er sich Kijs Tasche, mit der anderen zieht er sie hoch. Kij blinzelt ihn mit schweren Lidern an.
»Komm schon, Dornröschen. Wir werden hier außerplanmäßig aussteigen.« Er zerrt sie, immer noch halb bewusstlos, in den Mittelgang, packt die Taschen und zieht sie zu den rückwärtigen Schiebetüren. Hinter ihm explodiert das schwarze Panoramafenster in einem Regen aus Glaszucker, als ein Betonbrocken mit einem Schleuderseil hindurchbricht. Er prallt vom Tisch ab und triff eine Frau auf der anderen Seite der Sitzreihen. Sie geht zu Boden, während Blut aus einem zertrümmerten Knie spritzt. Die flüchtenden Passagiere stolpern über sie und stürzen. Sie ist tot, erkennt Thomas Lull mit einem schrecklichen, vertrauten Erschaudern. Die Frau oder jeder andere, der in dieser Woge untergeht.
»Beweg dich, verdammt!« Mit Schlägen gegen den Rücken stößt Thomas Lull die benommene Kij durch den Gang. Er sieht Flammen durch das leere Fenster, Flammen und Gesichter. »Weiter, weiter!« Hinter ihnen ist das Gedränge furchtbar. Erste Rauchfäden kriechen aus den Lüftungsschlitzen und unter der Tür zum vorderen Wagen hervor. Die Stimmen erheben sich in einem furchtsamen Chor.
»Zu mir! Zu mir!«, brüllt ein Sikh-Steward in Eisenbahnuniform, der auf einem Tisch neben der inneren Waggontür steht. »Einer nach dem anderen. Kommen Sie. Wir haben genügend Zeit. Sie. Jetzt Sie. Und Sie.« Er benutzt seinen Generalschlüssel, um aus der Schiebetür eine Menschenschleuse zu machen. Immer nur eine Familie auf einmal.
»Was zum Teufel ist hier los?«, fragt Thomas Lull, als er das Kopfende der Schlange erreicht hat.
»Karsevaks aus Bharat haben den Zug in Brand gesetzt«, antwortet der Steward leise. »Sagen Sie nichts. Jetzt gehen Sie.«
Thomas Lull schiebt Kij durch die Tür, blinzelt in die Dunkelheit außerhalb des Zuges.
»Verdammte Scheiße.« Ein Ring aus Feuer umschließt das kleine Lager aus benommenen, ängstlichen Passagieren und ihrem Hab und Gut. Die jahrzehntelange Arbeit mit den Ziffern zellularer Automaten befähigt Thomas Lull, Mengen mit einem Blick einschätzen zu können. Da draußen müssen fünfhundert von ihnen sein, die lodernde Fackeln halten. Funken wehen vom vorderen Ende des Zuges heran, orangeroter Rauch, im Zwielicht leuchtend, ein sicheres Anzeichen für brennenden Kunststoff. »Planänderung. Wir steigen hier doch nicht aus.«
»Was ist los? Was geschieht hier?«, fragt Kij, als Thomas Lull die Tür zum nächsten Waggon aufdrückt. Er ist bereits halb leer.
»Der Zug wurde angehalten. Von irgendwelchen protestierenden Shivajis.«
»Shivajis?«
»Ich dachte, du wüsstest alles. Hindu-Fundamentalisten. Die im Moment ziemlich stinkig auf Awadh sind.«
»Du bist sehr wortgewandt«, sagt Kij, und Thomas Lull kann nicht sagen, ob die Wirkung des Beruhigungsmittels nachlässt oder ihre bizarre Weisheit einsetzt. Aber das Leuchten von draußen wird stärker, und er hört das knallende, splitternde Krachen von Dingen, die gegen den Kadaver des Zuges geschleudert werden.
»Weil ich sehr, sehr große Angst habe«, sagt Thomas Lull. Er schiebt Kij an der nächsten Tür vorbei, die zur Nacht geöffnet ist. Er will nicht, dass sie die Schreie und den Lärm bemerkt, den er als Schießerei mit Handfeuerwaffen identifiziert. Die Waggons sind jetzt fast leer, und sie kämpfen sich weiter durch die nächsten zwei, drei. Dann, als ein lauter, dumpfer Knall den Zug erschüttert, wankt der Waggon und wirft Thomas Lull und Kij um. »Oh Gott!«, sagt Thomas Lull. Er vermutet, dass der Triebwagen explodiert ist. Draußen brüllt der Mob beifällig. Thomas Lull und Kij gehen weiter. Vier Waggons später treffen sie einen Kontrolleur, einen Marathi mit weit aufgerissenen Augen.
»Sie können hier nicht weiter, Sir.«
»Ich werde weitergehen, ob an Ihnen vorbei, über Sie hinweg oder durch Sie hindurch.«
»Sir, Sir, Sie verstehen nicht. Man hat auch das andere Ende in Brand gesteckt.«
Thomas Lull starrt den Kontrolleur in seiner ordentlichen Uniform an. Es ist Kij, die ihn fortzerrt. Sie erreichen den Vorraum eines Waggons, wo Rauch zwischen den Ritzen der verschlossenen Innentür hervordringt. Die Lichter gehen aus. Thomas Lull blinzelt in der Dunkelheit, dann schaltet sich die Notbeleuchtung am Boden ein und wirft ein unheimliches Grusellicht auf die Falten und Vorsprünge der menschlichen Gesichter. Die Außentür rührt sich nicht, sie bleibt fest verschlossen. Thomas Lull beobachtet, wie der Rauch den Waggon hinter der Innentür ausfüllt. Er versucht, an der Gummidichtung zu zerren.
»Sir, Sir, ich habe einen Schlüssel.«
Der Kontrolleur zieht einen schweren Inbusschlüssel an einer Kette aus der Tasche, steckt ihn in das Sechskantschloss und kurbelt die Tür auf. Die innere Waggontür ist schwarz vom Ruß, beult sich aus und wirft Blasen. »Nur noch wenige Augenblicke, Sir ...«
Die Tür hat sich weit genug geöffnet, um von sechs Händen vollständig aufgedrückt zu werden. Thomas Lull wirft das Gepäck in die Dunkelheit und sich hinterher. Er landet unglücklich, stürzt, rollt sich auf Steinen und Gleisen ab. Kij und der Eisenbahner folgen ihm. Er richtet sich auf und sieht, wie das Innere des Waggons, den sie verlassen haben, in erschreckendem Gelb aufleuchtet. Dann platzen alle Fenster gleichzeitig und versprühen zerkrümeltes Glas.