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»Das ist Sonia Shetty, sie spielt Ashu Kumar. Sie war mit Lal Darfan verheiratet — im wahren Leben, nicht in Stadt und Land —, aber sie haben sich im vergangenen Frühling scheiden lassen. Das hat mich wirklich überrascht, alle dachten, sie würden auf ewig zusammenbleiben, aber man hat sie immer wieder mit Roni Jhutti gesehen. Sie war bei der Premiere von Prem Das, in einem hübschen Silberkleid, also glaube ich, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis wir ihre Heiratsanzeige lesen. Natürlich hat Lal Darfan alle möglichen Sachen über sie gesagt, dass sie faul und eine Schande ist. Ist es nicht seltsam, wie Schauspieler ganz anders als ihre Rollen in Stadt und Land sein können? Dadurch hat sich meine Meinung über Dr. Prekash ziemlich geändert.«

Krishan blättert die dicken Hochglanzseiten um, die nach Petrochemie duften.

»Aber auch sie sind doch gar nicht real«, sagt er. »Diese Frau war im wirklichen Leben nie verheiratet, sie war gar nicht zusammen mit einem anderen Schauspieler auf irgendeiner Premiere. Sie sind nur Software, die glaubt, eine andere Form von Software zu sein.«

»Das weiß ich natürlich«, sagt Parvati. »Niemand glaubt, dass sie echte Menschen sind. Bei den Prominenten ging es noch nie darum, was real ist. Aber es ist nett, so zu tun, als ob. Es ist, als würde es noch eine zweite Geschichte zu Stadt und Land geben, aber eine, die mehr Ähnlichkeit mit unserem Leben hat.«

Krishan schaukelt langsam vor und zurück.

»Verzeihen Sie bitte, aber vermissen Sie Ihre Familie sehr?«

Parvati blickt von den Glamour-Fotos auf. »Warum fragen Sie das?«

»Mir ist nur aufgefallen, dass Sie Menschen, die nicht real sind, wie Familienmitglieder behandeln. Sie interessieren sich für ihre Beziehungen, für sämtliche Wechselfälle ihres Lebens, falls man es so bezeichnen kann.«

Parvati zieht ihren Dupatta über den Kopf, um sich vor der hochstehenden Sonne zu schützen.

»Ich denke jeden Tag an meine Familie, meine Mutter. Oh, ich möchte nicht zurück, nicht einen einzigen Moment, aber ich dachte, mit so vielen Menschen, wo so viel los ist, wenn ich in der Hauptstadt lebe, stünden mir hundert Welten offen, durch die ich streifen könnte. Aber hier ist es leichter, unsichtbar zu sein, als es das jemals in Kotkhai war. Hier könnte ich komplett verschwinden.«

»Kotkhai, wo liegt das?«, fragt Krishan. Über ihm vermischen und verstricken sich die Kondensstreifen von Flugzeugen, von Aufklärern und Killern, die sich zehn Kilometer über Varanasi gegenseitig jagen.

»Im Distrikt Kishanganj, in Bihar. Sie haben mir soeben etwas Seltsames bewusst gemacht, Mr. Kudrati. Ich maile täglich meiner Mutter, und sie erzählt mir von ihrer Gesundheit und wie es Rohini und Sushil und den Jungen geht, was all die Leute machen, die ich aus Kotkhai kenne, aber sie erzählt mir nie etwas über Kotkhai.«

Also erzählt sie ihm von Kotkhai, weil sie es eigentlich sich selbst erzählt. Sie könnte zu den Ansammlungen von rissigen Lehmziegelhäusern zurückkehren, die sich um die Tanks und Pumpen drängen, sie könnte wieder über die leicht geneigte Hauptstraße mit den Geschäften und Werkstätten der Steinmetze unter den Markisen aus Wellblech spazieren. Dies war die Welt der Männer, die Tee tranken und Radio hörten und sich über Politik stritten. Die Welt der Frauen war draußen auf den Feldern, an den Pumpen und Tanks, denn Wasser war das Element der Frauen — und die Schule, wo die neue Lehrerin Mrs. Jaitly aus der Stadt abendliche Klassen abhielt und Diskussionsgruppen leitete und eine Mikrokredit-Genossenschaft aufbaute, die mit Eiergeld finanziert wurde.

Dann veränderte sich alles. Lastwagen von Ray Power kamen mit Männern, die ein Zeltdorf errichteten, so dass es einen Monat lang zwei Kotkhais gab, während man für sie Windturbinen und Sonnenkollektoren und Biomasse-Generatoren baute und nach und nach jedes Haus, jeden Laden und jeden Tempel mit einem Netz aus durchhängenden Kabeln verband. Sukrit, der Batterieverkäufer, verfluchte sie, weil sie einem guten Mann das Geschäft ruiniert und eine gute Tochter in die Prostitution getrieben hatten.

»Wir sind jetzt Teil der Welt«, hatte Mrs. Jaitly ihren Frauen in der Abendschule erklärt. »Unser Netz aus Kabeln verbindet uns mit einem anderen Netz, das wiederum mit einem größeren Netz verbunden ist, das uns schließlich mit einem weltweiten Netz verbindet.«

Aber das alte Indien lag im Sterben. Nehrus Traum platzte aus den Nähten, unter dem Druck ethnischer und kultureller Aufspaltung und einer Umwelt, die von anderthalb Milliarden Menschen erdrückt wurde. Kotkhai brüstete sich damit, dass seine Rückständigkeit und Isolation es vor Diljit Ranas idiosynkratischer Mixtur aus Hinduismus und Zukunftsvision schützen würde. Aber die Männer redeten im Dhaba, lasen sich die Artikel in den Abendnachrichten vor, in denen es um nationale Armeen und bewaffnete Milizen ging, um Blitzüberfälle, mit denen ein paar bitterarme Dörfer wie Kotkhai für das nationale Territorium erobert und gehalten werden sollten. Jai Bharat! Die jungen Männer gingen zuerst. Parvati hatte gesehen, wie ihr Vater ihnen nachgeschaut hatte, als sie mit dem Landbus abgefahren waren. S. J. Sadurbhai hatte seiner Ehefrau nie verziehen, dass sie ihm nur Töchter geboren hatte. Täglich beneidete er die Mittelklasse, die es sich leisten konnte, das Geschlecht ihrer Kinder auszusuchen. Sie bauten eine starke Nation auf, die nicht so schwach und verweiblicht war wie das alte Indien, das sich zu Tode gezankt hatte. Es war fast wie eine Erleichterung im Hause Sadurbhais, als er bekanntgab, dass er und sein Lehrling Gurpal aus der Autowerkstatt in den Krieg ziehen würden. In einen guten Krieg. In einen männlichen Krieg. Sie fuhren davon, und in ganz Kotkhai gab es nur zwei Gefallene. Diese beiden kamen in einem Laster ums Leben, als sie einen Kaih-Kampfhubschrauber begleiteten, der Freund nicht von Feind unterscheiden konnte. Ein männlicher Krieg, ein männlicher Tod.

Drei Wochen später war eine neue Nation geboren, und der Krieg wurde von Soaps abgelöst. Nur einen Monat nach der Ausrufung des Staates Bharat trafen noch mehr Männer mit noch mehr Kabeln ein, Glasfaserkabeln, die Nachrichten und Gupshups und Soaps übertrugen. Lehrerin Jaitly wetterte gegen Stadt und Land als verdummende Propaganda, die vom Staat verbreitet wurde, um wirkliche politische Debatten zu ersticken, aber Woche um Woche schrumpften ihre Klassen, bis sie schließlich in die Stadt zurückkehrte und vor den Affären der Prekashs und Ranjans kapitulierte. Der neue Versammlungsplatz des Dorfes bildete sich rund um den vom Staat zur Verfügung gestellten Breitbildfernseher. Parvati wuchs im Licht von Stadt und Land zur Frau heran. Daraus lernte sie alle Fähigkeiten, die sie brauchte, um zur perfekten Ehefrau zu werden. Sechs Monate später war Parvati in Varanasi und erhielt dort den letzten gesellschaftlichen Schliff, mit dem sie auf die besten Partys und Durbars gehen konnte. Ein weiteres halbes Jahr später, bei der Hochzeit des Cousins irgendeines Cousins, schnappte sie ein Geflüster von Deepti auf, einer Cousine zweiten Grades, und folgte der Richtung des Geflüsters, quer durch den von Laternen beleuchteten Garten, bis zu jenem dünnen und gelehrtenhaft wirkenden Mann, der versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sie beobachtete. Sie erinnert sich daran, dass der Baum, unter dem er stand, mit kleinen Vogelkäfigen behangen war, in denen Kerzen brannten. Sie hatte ihn in einem Halo aus Sternen gesehen.

Als weitere sechs Monate vergangen waren, hatten sie alle Vorbereitungen abgeschlossen, die Mitgift war auf dem Grameen-Bankkonto von Parvatis Mutter hinterlegt und ein Taxi bestellt, das Parvatis wenige persönliche Sachen zur neuen Penthouse-Wohnung im Herzen des großen Varanasi bringen sollte. Nur dass diese Sachen wie Waisenkinder in den mit Zedernholz furnierten Schränken aussahen, und es mochte zwar ein Penthouse sein, aber inzwischen zog jeder aus dem schmutzigen, überfüllten, lärmenden Kashi weg und in das sanfte grüne Quartier, und der dünne, gelehrtenhafte, in Sterne gehüllte Mann war einfach nur ein Polizist. Doch auf ein Wort oder einen Wink von ihr waren die Prekashs und Ranjans wieder da, jederzeit abrufbar, und sie waren in Kotkhai genauso glücklich wie in Varanasi, und sie kannten weder Standesdünkel noch Kaste, und ihre Erlebnisse und Skandale waren immer wieder interessant.