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Er schreitet durch das Hochparterre zur Frauenhälfte des Hauses. Wie immer zögert er vor der Tür zur Zenana. Die Purdah wurde zu Zeiten seines Großvaters aus dem Haveli Khan verbannt, aber Shaheen Badoor Khan hat stets eine gewisse Scham vor den Räumlichkeiten der Frauen verspürt. Hier sind Dinge, Geschichten in den Wänden und Lebensweisen, die nichts mit ihm zu tun haben. Ein geteiltes Haus, wie die Hälften des Gehirns.

»Bilquis.« Seine Frau hat sich ihr Arbeitszimmer auf dem abgeschirmten Balkon mit Blick auf die wimmelnden, lärmenden Ghats und den stillen Fluss eingerichtet. Hier schreibt sie ihre Artikel und Radioansprachen und Essays. Im Vogelgarten darunter empfängt sie ihre klugen, entrechteten Freundinnen, sie trinken Kaffee und schmieden Pläne, die kluge, entrechtete Frauen eben schmieden.

Wir sind eine deformierte Gesellschaft, hatte der Staatsdiener und Musikliebhaber gesagt, als Mumtaz Haq auf die Bühne getreten war.

»Bilquis.«

Schritte. Die Tür geht auf, das Gesicht einer Bediensteten — Shaheen Badoor Khan kann sich nicht erinnern, welche es ist — lugt heraus.

»Die Begum ist nicht hier, Sahb.«

Shaheen Badoor Khan sackt am stabilen Türrahmen zusammen. Das einzige Mal, dass er ein paar aufgeschnappte Sätze zwischen zwei geschäftigen Leben zu schätzen gewusst hätte. Ein Wort. Eine Berührung. Denn er ist müde. Ermüdet von der Unbarmherzigkeit. Ermüdet von der erschreckenden Wahrheit, dass er die Ereignisse, die er in Bewegung gesetzt hat, nicht mehr aufhalten könnte. Selbst wenn er sich auf den Boden setzen und nichts tun würde wie der Sadhu an einer Straßenkreuzung, würden sie sich hinter ihm auftürmen, sich gegenseitig verstärken und zu einer Flutwelle anschwellen. Er muss ständig rennen, um ihr ein paar Schritte voraus zu sein. Er ist ermüdet von der Maske, dem Gesicht, der Lüge. Sag es ihr. Sie wird wissen, was zu tun ist.

»Sie ist immer unterwegs, ja.«

»Mr. Khan?«

»Schon gut.«

Die Tür schließt sich vor dem Gesichtsausschnitt. Zum ersten Mal, seit er sich erinnern kann, fühlt sich Shaheen Badoor Khan in seinem eigenen Haus verloren. Er erkennt die Türen, die Wände, die Gänge nicht wieder. Jetzt ist er in einem hellen Raum und blickt auf den Frauengarten hinaus. Ein weißer Raum, in dem die Moskitonetze zu großen weichen Knoten verschnürt sind, ein Raum mit schrägen Lichtbalken und Staub und einem Geruch, der ihn zu sich selbst zurückfinden lässt. Gerüche sind der Schlüssel zu Erinnerungen. Er kennt diesen Raum, er hat diesen Raum geliebt. Es ist das alte Kinderzimmer, sein Jungenzimmer. Sein Zimmer, hoch über dem Wasser. Hier wachte er jeden Morgen auf, wenn die Brahmanen den großen Fluss grüßten. Das Zimmer ist sauber und blass und leer. Er muss angeordnet haben, dass es ausgeräumt wird, nachdem die Jungen auf die Universität gegangen sind, aber er kann sich nicht daran erinnern. Ayal Gul starb vor zehn Jahren, aber in den Holzbrettern, den Vorhängen kann er immer noch das Parfüm ihrer Brust wahrnehmen, die Würze ihrer Kleidung, obwohl Shaheen Badoor Khan erschrocken bewusst wird, dass es Jahrzehnte her ist, seit er diesen Raum das letzte Mal betreten hat. Er blickt blinzelnd ins Licht.

Gott ist das Licht des Himmels und der Erde ... Licht über Licht. Gott leitet zu seinem Lichte, wen er will, und Gott prägt die Gleichnisse der Menschen, denn Gott ist sich jedes Dings bewusst. Die Sure steigt kräuselnd wie Rauch in Shaheen Badoor Khans Erinnerung auf.

Nur weil er zum ersten Mal seit sehr langer Zeit das Gefühl hat, von niemandem beobachtet zu werden, kann Shaheen Badoor Khan tun, was er jetzt tut. Er streckt die Arme seitlich aus und fängt an, sich zu drehen, zuerst langsam, während die Füße nach Gleichgewicht suchen. Der Sufi-Tanz, in dem sich die Derwische drehen und das innere Gottesbewusstsein erlangen. Der Dhikr, der heilige Name Gottes, bildet sich auf seiner Zunge. Hell blitzt eine Kindheitserinnerung auf, wie sein Großvater sich in perfekter Haltung auf dem geometrisch gekachelten Boden des Iwan dreht, während die Qawwals spielen. Ein Mevlevi ist aus Ankara gekommen, um indischen Männern die Sema beizubringen, den großen Tanz Gottes.

Rotiere mich aus dieser Welt, Gott-in-mir.

Die weichen Matten verschieben sich unter Shaheen Badoor Khans Füßen. Er ist hochgradig konzentriert, er denkt nur an die Bewegung der Füße, die Drehung der Hände, hinunter, um zu segnen, hinauf, um zu empfangen. Er wirbelt zurück, immer tiefer in seine Erinnerungen hinein.

Dieser verrückte Sommer in New England, als sich ein Hochdruckgebiet über dem puritanischen Cambridge festgesetzt hatte und die Temperaturen stiegen und alle ihre Türen und Fenster öffneten und auf die Straßen und in die Parks gingen oder einfach nur in ihrem Hauseingang oder auf Balkonen saßen, als Shaheen Badoor Khan im zweiten Studienjahr vergaß, wie es war, kalt und zurückhaltend zu sein. Er ging mit Freunden aus, kehrte sehr spät von einem Musikfestival in Boston zurück. Dann kam es aus der sanften, samtigen, duftenden Nacht, und Shaheen Badoor Khan war wie paralysiert, fixiert wie ein Polarstern, wie es ein Vierteljahrhundert später auf dem Flughafen von Dhaka erneut geschehen sollte, als er die Vision einer überirdischen, fremdartigen, unerreichbaren Schönheit hatte. Das Neut runzelte die Stirn über den Ansturm lärmender Studenten, als ys versuchte, ihm auszuweichen. Es war das Erste, das Shaheen Badoor Khan jemals gesehen hatte. Er hatte darüber gelesen, Bilder gesehen, war fasziniert gewesen, gequält gewesen, von diesem Fleisch gewordenen Kindheitstraum gepeinigt worden. Diesmal war es eine leibhaftige Inkarnation, real, kein legendäres Untier. Auf jenem Harvard-Rasen hatte er sich verliebt. Er hatte sich nie wieder entliebt. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er diesen Dorn im Herzen mit sich herumgetragen.

Füße und Hände bewegen sich, Lippen formen das Mantra des Dhikr, alles dreht sich.

Die Verpackung war vollkommen, einfach, elegant. Papier mit rot-schwarz-weißem Koi-Muster, ein einziger Streifen aus Zellophanbast in Gold. Minimal. Inder hätten es aufgehübscht, bunt gemacht, mit Herzen und Schleifen und Ganeshas, es hätte Melodien gespielt und segnendes Konfetti versprüht, wenn man es öffnete. Als Shaheen Badoor Khan im Alter von dreizehn Jahren das Paket aus Japan sah, erkannte er, dass seine Wesensart niemals wirklich indisch sein würde. Sein Vater hatte auf seiner Geschäftsreise nach Tokyo Geschenke für die ganze Familie gekauft. Für seine jüngeren Brüder Karpfendrachen zum Boy’s Day, die von da an voller Stolz von den Balkonen des Haveli fliegen gelassen wurden. Für den ältesten Sohn Nihon in einer Box. Shaheen hatte auf die Quetschtuben mit Action Drink gestarrt, auf die Boat-in-the-Mist-Schokolade, die Sammelkarten und das Waving-Kitty-Robopet, die Tücher mit den Stimmungsfarben und die Disks mit Nippon-Pop. Was sein Leben grundlegend verändert hatte, wie ein Motorrad, das sich in einen rächenden Kampfroboter verwandelte, waren die Mangas. Anfangs hatte ihm die unbeschwerte Mischung aus Gewalt, Sex und schulkindlicher Verunsicherung gar nicht gefallen. Billig und fremdartig. Aber was ihn verführt hatte, waren die Figuren, die langgestreckten geschlechtslosen Teenager mit den Rehaugen und Stupsnasen und ihren stets offenen Mündern. Sie retteten die Welt, hatten Probleme mit ihren Eltern, trugen fabelhafte Kostüme, hatten phantastische Frisuren und Schuhe, machten sich Sorgen um ihre Boygirl-Freunde, während die vernichtenden Engelroboter über Tokyo herfielen, aber die meiste Zeit waren sie eigenständig, cool, großartig, langbeinig und androgyn. Er sehnte sich so sehr nach ihrem aufregenden, leidenschaftlichen Leben, dass er geweint hatte. Er beneidete sie um ihre Schönheit und ihre sexy Sexlosigkeit und dass jeder sie kannte und liebte und bewunderte. Er wollte wie sie sein, im Leben und im Tod. In seinem Bett in der lauten Dunkelheit Varanasis dachte sich Shaheen Badoor Khan Fortsetzungsgeschichten für sie aus, was geschah, nachdem sie die Engel besiegt hatten, die durch den Riss zwischen den Himmeln in die Welt eingedrungen waren, wie sie sich in ihrer mit Pelz ausgekleideten Kriegskuppel liebten und miteinander spielten. Dann zogen sie ihn hinunter in ihr mit rosafarbenem Pelz ausgekleidetes Kriegsnest, wo sie sich aneinanderrieben, unbestimmt, aber leidenschaftlich, für immer und ewig. In jenen Nächten, wenn er zum Mage-Rider eines Grassen Elementoi gemacht wurde, wachte Shaheen Badoor Khan am erstickenden Morgen mit verklebter Pyjamahose auf.