Noch Jahre später nahm er heimlich diese vergilbten, aufgeweichten und zerfransten Comics aus der Schuhschachtel. Ewig jung, ewig schlank, ewig schön und abenteuerlustig standen die Boygirl-Piloten des Grassen Elementoi mit verschränkten Armen da und forderten ihn mit ihren Wangenknochen und Tieraugen und zum Küssen einladenden Schmollmündern heraus.
Shaheen Badoor Khan wirbelt am Rand der Transzendenz im Kreis und spürt, wie ihm Tränen in den Augen brennen. Die Sema schleudert ihn zurück zum Strand.
Seine Mutter hatte sich über die Feuchtigkeit und den Sozialismus und die Fischer beklagt, die vor dem Bungalow auf den Sand schissen. Sein Vater war nervös und muffelig und hatte Heimweh nach dem trockenen Norden. Er nörgelte an allem herum, in zerknitterter Hose und kurzärmligem Popelinhemd und offenen Sandalen in der erdrückenden Hitze Keralas, und es war der schlimmste Urlaub gewesen, an den Shaheen Badoor Khan sich erinnern konnte, weil er sich so sehr darauf gefreut hatte. Der Süden der Süden der Süden!
Am Abend kamen die Fischerkinder vom Meer herein. Von der Sonne geschwärzt, nackt, lächelnd. Sie hatten gespielt und geschrien und herumgeplanscht, während Shaheen Badoor Khan und seine Brüder auf ihrer Veranda saßen und Limonade tranken und ihrer Mutter zuhörten, die erzählte, wie schrecklich diese furchtbaren Kinder waren. Shaheen Badoor Khan fand sie gar nicht furchtbar. Sie hatten ein kleines Auslegerboot. Sie spielten den ganzen Tag lang mit diesem Boot, darin und drum herum. Shaheen Badoor Khan stellte sich vor, wie sie von einem Abenteuer auf dem weiten Meer zurückgekehrt waren, etwas mit Piraterie, Rettungsaktionen und Erkundungen. Wenn sie ihren Ausleger auf den Sand zogen und auf dem Strand Cricket spielten, glaubte er, vor Sehnsucht sterben zu müssen. Er wollte mit diesen schwarzen, grinsenden keralesischen Boygirls davonsegeln, er wollte nackt ins blutwarme Wasser gleiten und es wie eine Haut tragen. Er wollte rennen und schreien und nackig und unbefangen und frei sein.
Im Nachbarbungalow wohnte eine Beamtenfamilie aus Bangalore, die in jeder Hinsicht von zu geringer Stellung war, aber Shaheen Badoor sah, wie der Sohn und die Tochter auf dem Ausleger spielten, wie die beiden ins klare Wasser sprangen und prustend wieder auftauchten, mit Tropfen benetzt, lachend und lachend, um es noch einmal und noch einmal zu tun. Dort wurde die Saat der Leere gelegt, die auf der langen Heimreise mit dem Zug durch Indien keimte und zu einem Schmerz wurde, einer Hoffnung, einer Sehnsucht, die keinen Namen und keine Worte hatte. Aber sie roch nach Sonnenschutzcreme, sie juckte wie Sand zwischen den Zehen, sie fühlte sich wie warme Kokosmatten an und klang wie Kinderschreie, die über das Wasser hallten.
Shaheen Badoor Khan hört auf sich zu drehen. Er ringt ein mächtiges, erschütterndes Schluchzen nieder, das in ihm aufsteigt. Er hat es sich so sehr gewünscht, aber sein Leben hat es ihm nie erlaubt, diese Art von Freiheit zu genießen. Er würde alles geben, einmal so schön zu sein, wenigstens für einen Tag.
Füße. Draußen. Bloße Füße. Shaheen Badoor Khan schüttelt den Sukkubus ab.
»Wer ist da?«
»Sir? Ist alles in Ordnung?«
»Alles bestens. Lassen Sie mich bitte allein.«
Alles ist bestens, so gut, wie es inmitten von Ruinen eben sein kann. Shaheen Badoor Khan rückt seinen Anzug zurecht, glättet den durch die Drehung verrutschten Dhuri. Gott hat ihm Ehre erwiesen. Er ist in die Nafs hinabgestiegen, den begehrenden Kern der Seele, und dort wurde ihm die wahre Natur des Gottes-in-ihm gezeigt, und sein unverständlicher Ruf nach Hilfe wurde beantwortet.
Jetzt weiß er, was er wegen des Neut unternehmen muss.
23
Thal
Den Rest der Woche stürzt sich Thal in sys Arbeit, aber nicht einmal die Inneneinrichtung des Haveli, in das Aparna Chawla und Ajay Nadiadwala nach ihrer virtuellen Hochzeit ziehen werden, kann die Dämonen vertreiben. Ein Genderlicher. Ein Mann. Ein Khan. Thal versucht ihn aus sys Gehirn zu vertreiben, aber sein Bild ist wie Diwali-Lichter zwischen sys Neuronen aufgespannt. Das ist die größte Angst: dass sich da drinnen alles auflöst, dass sich all die Biochips und Hormonpumpen in sys Blutkreislauf auflösen. Thal befürchtet, ys könnte sys Neutheit durch sys Nieren auspissen. Ys schmeckt immer noch die Lippen dieses Khan.
Am Ende der Woche gibt sogar Neeta ys den Rat, sich eine Auszeit zu nehmen.
»Geh, los, raus hier«, befiehlt Line Producer Devgan. Thal geht, lost und raushiert nach Patna. Nur ein Neut kann auf die Idee kommen, das Wochenende in dieser ausufernden, heißen, seelenlosen Industriestadt zu verbringen. Es gibt jemanden, mit dem sich Thal dort treffen will. Mit sys Guru.
Zwei Stunden später ist Thal unten am Fluss, blinzelt durch polarisierte Kontaktlinsen gegen das grelle Glitzern des Wassers an und bucht ein Rückfahrtticket erster Klasse (es ist besser, in der ersten Klasse zu reisen als anzukommen, Baba) auf dem schnellen Tragflügelboot nach Patna. Dreißig Minuten später kuschelt ys sich in den Sitz, schließt die Augen und die kleinen, weichen Fäuste vor Entzücken über die einleitenden Beats des GURU GRANTH MIX, während die Industrieanlagen am fernen trockenen Ufer vorbeiziehen. Ys ist überrascht, dass überhaupt noch genug Wasser da ist, auf dem dieses Ding schwimmen kann.
Es gibt eine neue Mode auf Patnas umweltverschmutzten Straßen. Düster und fließend ist in. Genauso wie Haar, das in einem einzelnen seitlichen Irok getragen wird, der über die Stirn fällt. Und niemand trägt noch Skibrillen, das geht gar nicht. Wegen der Frisur kann Thal nichts machen, aber ClimBunni an der Amrit Marg hat den kompletten Look auf Lager, in Regalen sortiert und zum Verkauf bereit. Tops hier, Bottoms da, Unders hier, Schuhwerk in Schwarz. Die Karte muss einen weiteren schweren Verlust hinnehmen, aber eine halbe Stunde später schwebt Thal auf die Straße, gewandet in Schwaden aus weicher grauer Seide und silber-schwarze Cowneut-Boots mit Fünf-Zentimeter-Absätzen und den unentbehrlichen Perlenquasten, die an den Stiefelriemen baumeln. Die Jungs kommen ins Schwanken, die Mädchen werfen neidische Blicke, die Frauen in den Kaffeehäusern stecken die Köpfe zusammen und reden hinter vorgehaltener Hand, der Verkehrspolizist auf seinem Posten am Kreisverkehr dreht sich fast einmal im Kreis, als Thal in der Sonne mit den schwarzen Kontaktlinsen klappert. Es ist gut, so gut, so erstaunlich unerwartet und wunderbar und köstlich, wieder auf den Straßen von Patna unterwegs zu sein, unter der Sonne von Patna, den Smog von Patna einzuatmen, sich durch die Körper und Gesichter von Patna zu schlängeln, sich zum Patna-Mix in den Kopfhörern zu bewegen. Alles tanzt zum Mix. Alles ist ein Musical, jede zufällige Begegnung zwischen Passanten ist ein Mord oder ein Ehebruch oder ein Raubüberfall oder das Wiedersehen eines Liebespaars nach sehr langer Zeit. Die Kleidung ist fröhlicher, die Reklame strahlt heller, und alles steht kurz davor, in eine gewaltige Tanzeinlage auszubrechen, die ganze Stadt, nur für Thal. Ys betet zu Ardhanarishvara, der Gottheit der Neuts, dass ys als Erstes die Noo-Mode nach Varanasi bringt.
Varanasi. Und Männer, die Khan heißen. Und alles andere.
Für jene, die sich auskennen, gibt es das Schnellboot unten an den Glastürmen des Commercial Bund, das einen zum Sangam hinaufbringt, wo der Guru sys Geschäft betreibt. Das Boot ist ein Riva aus Mahagoni, bemerkt Thal anerkennend. Der zweifache Motor richtet den Riva auf den Tragflügeln auf und lässt ihn an den kriechenden kleinen Fähren und Schleppzügen vorbeischießen. Das Boot überquert den Hauptkanal und schert nach links aus, rast auf die große sandige Landzunge zu, wo sich der Gandak mit der heiligen Ganga vereint. Auf diesem weiten Sanddelta und darum herum erhebt sich Bharats größte, billigste, schmutzigste und am wenigsten regulierte Freihandelszone. Die Larri-Gallas und Lagerhäuser aus Aluminiumblech drängten sich vor langer Zeit gegenseitig vom verfügbaren Land auf das Wasser ab, und nun wird der Sangam von verankerten Lastkähnen gesäumt, bis zu zwanzig nebeneinander. Hier leben Familien, die sich rühmen, nie einen Fuß auf festes Land gesetzt zu haben. Alles, was sie brauchen, um geboren zu werden, zu leben und zu sterben, finden sie im Labyrinth aus Landungsstegen und Niedergängen, die von Boot zu Boot führen.