»Ms. Askarzadah, ich wünsche Ihnen einen guten Morgen. Ich vermute, es ist Morgen, wenn meine Mitarbeiter Ihnen diese Nachricht übermittelt haben. Ich hoffe, Sie hatten ein erfrischendes Walking. Ich glaube wirklich, dass Sport am frühen Morgen die beste Möglichkeit ist, den Tag zu beginnen. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich weiterhin jeden Tag mit dem Surja-Namaskar begrüße, aber, ach ja, die Jahre ... Wie auch immer, meinen Glückwunsch, wie Sie meine letzten Informationen verwendet haben. Sie haben meine Erwartungen übertroffen, ich bin sehr, sehr erfreut. Aus diesem Grund habe ich entschieden, Ihnen die Veröffentlichung weiterer privilegierter Daten anzuvertrauen. Sie werden sie heute um Mitternacht von meinem Mitarbeiter entgegennehmen, an der Adresse, die Sie im Anschluss auf diesem Bildschirm sehen. Diese Informationen sind von höchster Brisanz, und ich glaube, dass ich nicht übertreibe, wenn ich sage, dass sie das politische Gefüge dieser Nation verändern werden. All meine bisherigen Warnungen werden wiederholt und verstärkt. Doch ich bin mir sicher, dass ich mich auch diesmal auf Sie verlassen kann. Vielen Dank, seien Sie gesegnet.«
Najia Askarzadah kennt die Adresse. Sie schließt ihren Palmer in ihrem Zimmer ein, bevor sie zu ihren Walking-Kameradinnen zurückkehrt, die bereits im blauen Pool planschen.
Geh einmal irgendwohin, und du wirst schneller wieder da sein, als du gedacht hast. Der Lärm im Club grenzt an Körperverletzung. Auf den Bänken aus Holzabfall drängen sich Männer, die mit ihren Wettscheinen winken und in Richtung des blutbespritzten Sandes brüllen. Viele sind in Uniform. Jeder Krieg ist eine Wette. Die Anweisungen auf ihrem Palmer führen sie die Treppe hinunter in die Arena. Die Geräusche und der Gestank nach Schweiß und verschüttetem Bier und oxidiertem Parfüm sind überwältigend. Najia zwängt sich zwischen den schreienden und gestikulierenden Körpern hindurch. Durch den Wald aus Händen kann sie die Kampf-Mikrosäbler erkennen, die von ihren Besitzern hochgehalten werden, während sie sich im Ring zur Schau stellen. Sie fragt sich, was aus dem hübschen, animalischen Jungen geworden ist, der ihr am ersten Abend aufgefallen ist. Dann werden die Katzen auf den Boden gesetzt, ihre Besitzer springen über die Wände der Arena, und die Menge stürmt mit einem hymnischen Gebrüll nach vorn. Najia kämpft sich zu den Satta-Ständen durch. Die Buchmacher mustern sie mit ihren runden, fliederfarbenen Brillen. Eine dicke Frau winkt sie heran.
»Setzen Sie sich. Setzen Sie sich hier neben mich.«
Najia zwängt sich auf die Bank. Die Kleidung der Frau riecht nach verbranntem Ghee und Knoblauch.
»Haben Sie etwas für mich?«
Die Satta-Frau ignoriert sie und ist mit ihrem Buch beschäftigt. Ihr Assistent, ein alter magerer Mann, schnappt sich das Bargeld und wirft Wettscheine über den polierten Holztresen. Der Ausrufer springt von seinem Hochsitz und läuft in den Ring, um den nächsten Kampf anzusagen. Heute ist er als Pierrot verkleidet.
»Nein, aber ich«, sagt eine Stimme plötzlich und nahe hinter ihr. Sie dreht sich um. Der Mann beugt sich über die Rückenlehne der Bank. Er ist in schwarzes Leder gekleidet. Najia kann es riechen: rauchig und sinnlich. Der düstere Junge aus dem Mercedes ist neben ihm: gleiches Hemd, gleiches Grinsen, gleiche Perlenkette. Der Mann hält einen braunen A4-Umschlag hoch. »Das ist für Sie.« Er hat dunkle, flüssige Augen, hübsch wie die eines Mädchen. Solche Augen vergisst man nicht wieder, und Najia weiß, dass sie sie schon einmal gesehen hat. Aber sie zögert, den Umschlag anzunehmen.
»Wer sind Sie?«
»Ein bezahlter Handlanger«, sagt der Mann.
»Wissen Sie, was das ist?«
»Ich liefere es nur aus. Aber ich weiß, dass alles, was sich darin befindet, echt ist und sich verifizieren lässt.«
Najia nimmt den Umschlag entgegen und öffnet ihn. Die Hand des Mercedes-Jungen streicht über die Öffnung und hält ihre zurück.
»Nicht hier«, sagt der Mann.
Najia schiebt den Umschlag in ihre Schultertasche. Als sie sich wieder umdreht, ist niemand mehr hinter ihr. Sie möchte unbedingt die Frage stellen: Warum ich? Aber der Mann mit den hübschen Augen hätte auch darauf keine Antwort gehabt. Sie hängt sich die Tasche über die Schulter und schlängelt sich durch die dichte Menge, während der Ausrufer auf dem Kampfplatz herumstapft und sein Drucklufthorn ertönen lässt und »Wettet! Wettet!« brüllt. Sie erinnert sich, woher sie diese Augen kennt. Sie sind sich aus dieser Perspektive begegnet, sie am Galeriegeländer, er in der Satta-Arena.
Zurück aufs Moped, hinaus in den Verkehr. Heute wirkt die Stadt nahe, bedrohlich, mit Messern bewaffnet. Die Autos und Laster wollen sie unter die Räder nehmen. Der Verkehr staut sich um eine Kuh, die mitten auf der Straße lang und ausgiebig pisst. Najia öffnet den Umschlag und zieht das obere Drittel des ersten Fotos heraus. Dann zieht sie es halb heraus. Dann ganz. Dann schüttelt sie das nächste Foto heraus. Dann das nächste. Dann das nächste.
Die Kuh ist weitergezogen. Lieferwagen hupen, Fahrer rufen, winken und schleudern ihr wilde Flüche entgegen.
Und das nächste. Und das nächste. Dieser Mann. Dieser Mann ist. Dieser Mann, sie erkennt ihn wieder, obwohl er sein Gesicht gut vor den Kameras versteckt hat. Dieser Mann ist angeblich die treibende Kraft hinter Sajida Rana. Ihr Privatsekretär. Wie er Geld gibt. Bargeld in einem dicken Bündel. Einem Neut. In einem Club. Shaheen Badoor Khan.
Die gesamte Straße blickt auf sie. Ein Polizist kommt mit erhobenem Lathi auf sie zu. Mit pochendem Herzen stopft Najia Askarzadah die Fotos zurück in den Umschlag, dreht am Gashebel und fährt mit tuckerndem Alkoholmotor davon. Shaheen Badoor Khan. Shaheen Badoor Khan. Ihre Amygdala steuert sie durch den hupenden, giftigen Verkehr, während sie das Geld sieht, das Apartment am Flussufer in New Sarnath, die Noo-Outfitz und Partyz und den Champagner, der kein Omar Khayyam ist, und die Interviews und den Namen in den Schlagzeilen, bharatweit, indienweit, asienweit, planetenweit, und im fernen kühlen netten Schweden schlagen ihre Eltern die Dagens Nyheter auf und sehen ein Foto ihrer Lieblingstochter in den Auslandsmeldungen.
Sie hält an. Ihr Herz schlägt arhythmisch, zuckend, aufgeregt. Wie von Koffein, Schock, Wahnsinnssex, Freude. Wenn man alles bekommt, was man sich je gewünscht hat. Sie kann sehen. Sie kann hören. Sie kann spüren. Ein Wirbel aus Lärm und Farben stürmt auf sie ein. Es gibt keinen anderen Ort, zu dem ihr Vorbewusstsein sie hätte bringen können als zum Herzen von Bharats Verrücktheiten und Widersprüchlichkeiten. Zum Sarkhand Roundabout.
Nichts mit Rädern und Motor gelangt über diese Kreuzung. Die strahlenförmig angelegten Straßen sind wie entzündete Arterien angeschwollen, mit Zeltstädten und Lastwagenburgen, glänzend in der gelben Straßenbeleuchtung und dem Schein von Schreinen auf den Gehwegen. Najia stellt die Füße auf den Boden und schiebt ihr kleines Motorrad in die Randbereiche, angezogen vom großartigen Chaos. Die rotierende Farbenwand, die sie durch das Gewirr aus Lastern und Plastikwänden erkennt, ist ein Kreis aus Menschen, die springen und singen, während sie um die bunt bemalte Betonstatue von Ganesha kreisen. Manche halten Plakate, andere Lathis, die über ihren Köpfen wanken und hüpfen wie ein Wald aus Bambusrohr im Wind des Vormonsuns. Manche tragen Dhotis und Hemden, andere westliche Hosen oder gar Anzüge. Manche sind nackt, mit Asche eingeriebene Sadhus. Eine Gruppe von Frauen in Rot, Anhängerinnen Kalis, eilt vorbei. Alle sind unbewusst in einen rhythmischen Gleichschritt verfallen. Einzelne Leute wirbeln heraus oder herein, aber das Rad dreht sich endlos weiter. Der Luftzylinder zwischen den Gebäuden am Platz pulsiert wie eine Trommel.