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Ein riesiges Objekt in Rot und Orange walzt in Najias Blickfeld: eine Rath Yatra wie jene, die sie an der Industrial Road gesehen hat. Vielleicht dieselbe. N. K. Jivanjees Triumphwagen Shivas. Sie schiebt ihr Moped weiter hinein. Der synkopierte Gesang ist eine wahnsinnige Jubelhymne. Sie spürt, wie sich ihr Atem und ihr Puls dem Rhythmus des Tanzes anpassen, wie sich ihre Gebärmutter zusammenzieht und sich ihre Brustwarzen verhärten. Sie ist jetzt Teil des Wahnsinns. Er definiert sie. Es ist genau die Gefahr und Unvernunft, die sie als Gegengift für ihre schwedische Nüchternheit gesucht hat. Es sagt ihr, dass es immer noch ein lohnenswertes Leben voller Überraschungen ist. Gerippt und aufregend! Kordhosen!, erklärt eine große gelbe Reklametafel über der verrückten Mela.

Ein Karsevak mit vorstehenden Zähnen drückt ihr einen A5-Zettel in die Hand.

»Lies lies! Dämonen greifen uns an, sexbesessene Kinderschänder!«, ruft er. Der Flyer ist vorn in Hindi bedruckt, auf der Rückseite in Englisch. »Unsere politischen Führer sind die Leibeigenen von Bibelchristen und Dämonischen Mohammedanern! Die Gründer von Mata Bharat! Lies diesen Flyer!«

Auf dem Zettel ist eine Zeichnung von Sajida Rana abgedruckt, die sie als Schattenspielpuppe zeigt, wie sie in ihrem Designer-Kampfanzug tanzt, und die Stäbe werden von einem hakennasigen karikierten Araber mit rot-weißem Shumagg gehalten. Auf seiner Ogal steht Badoor-Khan. Rana weist einem amerikanischen Televangelisten den Weg, der mit aufgerichteter Zigarre im Mund auf einem großen Bulldozer sitzt und auf eine Hindu-Mutter mit Kind zufährt, die im Schatten der Ratten-Vahana eines erzürnten Ganesha hockt, der kampfbereit den Rüssel und eine Axt erhoben hat.

Kinderschändende pädophile Muslime planen die Kapitulation vor der Coca-Cola-Kultur! Erst stehlen sie das Wasser von Mutter Ganga, dann Sarkhand, dann das Heilige Bharat. Eure Nation, eure Seele ist in Gefahr!

Sie hassen ihn, denkt Najia Askarzadah, die immer noch von der geballten menschlichen Energie zittert. Sie hassen ihn mehr als alles, was ich mir vorstellen kann. Und ich kann ihn an sie ausliefern. Ich kann ihnen geben, was sie wollen, den tiefsten, brutalsten Sturz. Ein kinderschändender Pädophiler? Nein, viel, viel schlimmer: Er liebt Wesen, die weder männlich noch weiblich sind. Monstren. Neuts. Ein Unmann.

Ein Lichtblitz, lodernde gelbe Flammen und donnernder Applaus von der wimmelnden Menge. Sie erkennt eine brennende Awadh-Fahne, die sich wie eine Seele im Feuer windet. Sie könnte einen Finger heben und all die Zukünfte in unbekannte Dimensionen verbannen. Sie hat sich nie zuvor so lebendig gefühlt, so stark, so mächtig und so launenhaft. Ihr ganzes Leben lang war sie die Außenseiterin, das Flüchtlingskind, die Asylsuchende, die afghanische Schwedin, die dazugehören wollte, zum Ganzen, zum Herzen, zum Blut. Sie spürt eine berauschend warme Feuchtigkeit am Vinyl des Mopedsattels.

25

Shiv

Shiv und Yogendra fahren durch einen Klangzylinder. Construxx rühmt sich einer Gruppe von Architektursachverständigen, die den Dschungel der Baugebiete von Varanasi und Ranapur durchstreifen und nach den besten prä- und postindustriellen Gebäuden absuchen. Die Marktlücke von Construxx sind die kurzen Einbrüche in den Cashflow-Bilanzen. Im letzten Monat waren es die Penthouse-Ebenen des Narayan Tower im Westen von Varauna: achtundachtzig Stockwerke vermietbarer formflexibler Büroräume, vier Mietparteien. In diesem Monat ist es der riesige Betonschacht, der, wenn das Geld nach dem Krieg wieder fließt, zur Metrostation »Universität« werden soll. Construxx ist bekannt für gewaltige Bauten und Mundpropaganda. Wenn man sie finden will, muss man die richtigen Leute an den richtigen Stellen fragen.

Lage der Construxx-Baustelle August 2047: Nimm die Metro nach Panch Kashi, letzter Halt auf der neuen Linie Südschleife, alles Chrom und Glas und dieser Beton, der aussieht, als würde er sich ölig anfühlen. Am Ende des Bahnsteigs gibt es eine behelfsmäßige Holztreppe, die auf die Gleise führt. Dieser Linienabschnitt ist außer Betrieb. Folge dem Tunnel, bis du einen kleinen Kreis aus flackernden Lichtern siehst. Zwei dunkle Gestalten werden an beiden Seiten des sich erweiternden Kreises erscheinen, das sind die Wachen. Du musst sie entweder durch dein Aussehen, deinen Stil, deinen Bekanntheitsgrad oder deinen Status beeindrucken. Oder ein von Nitish und Chunni Nath geladener Gast sein.

Construxx-Baustelle August 2047: Um den besten Eindruck zu gewinnen, schau nach oben. Blaues Scheinwerferlicht ergießt sich schaukelnd von einem Beleuchtungsgerüst, das unter dem provisorischen Plastikdach aufgehängt ist. Laufstege, Rampen, Halteseile, Stahlroste und Geflechte zerstreuen das Licht in ein Netz aus Schatten und Aquablau. Bewegliche Schatten sind Menschen, die tanzen und zum Klang der personalisierten Songs aus ihren Palmern grooven. Die DJ-Box ist halbhoch an der Mauer angebracht, ein klappriges Gestell aus Stangen von Baugerüsten und Baustahlmatten. Hier pumpen ein Team aus zwei Menschen und fünfzehn Kaihs ein Programm des Construxx August 2047 Mix raus, das auf jeden Tänzer draußen auf den Rampen abgestimmt ist.

Die Construxx-Baustelle August 2047 folgt einer strengen und einfachen Rangordnung. Shiv und Yogendra fahren mit dem Lastenaufzug durch das Frischfleisch und die Office-Grrrls aufwärts, die den ganzen Monat für diese eine verrufene Nacht gespart haben, durch die Möchtegern-Soapi-Stars und die netten jungen Kriminellen und die Söhne und Töchter von irgendwas, alle ihren entsprechenden Rampen zugeordnet. Der Lift zieht sie an aufgespritzten, zehn Meter großen roten Buchstaben nach oben: das Dogma von Construxx, das den halben Umfang des Betonschachts ausfüllt: Art Empire Industry.

Shiv schnippt seine kalte Bidi fort. Sie rollt durch das Stahlgitter unter seinen Füßen und fällt funkensprühend in das pulsierende Blau. Die Hauptbar und die Crush-Zone sind dort, wo später einmal die Fahrkartenautomaten stehen werden. Die wahren Götter sind oben auf den VIP-Ebenen, die wie aufgefächerte Spielkarten über die ganze Anlage verbreitet sind. Shiv geht auf die Security zu: zwei große blonde Russinnen in orangefarbenen Overalls mit dem Construxx-Mantra und Ausbuchtungen, die auf verborgene, aber leicht zugängliche Feuerkraft hinweisen. Während sie seine Einladung scannen, prüft Shiv, was oben auf der VIP-Ebene abläuft. Die Naths sind zwei kleine, in Gold gekleidete Figuren, wie Abbilder von Göttern, die ihren Bittstellern den Segen erteilen. Ein russisches Grrrl winkt Shiv rüber zur Bar. Er steht weit unten in der Sozialordnung.

Getränke werden von den Ticket-Tresen serviert. Ganze Reihen von Cocktail-Wallahs mixen, schütteln, kühlen und gießen in einem Rhythmus, der teils Tanz, teils Kampfkunst ist. Der Cocktail des Abends scheint etwas zu sein, das sich Kunda Khadar nennt. Lass eine Eisblase in puren Wodka fallen. Das Eis zerbricht, entlässt eine klare Flüssigkeit, die sich in der Verbindung mit Alkohol rot färbt. Das Blut des heiligen Bharat, vergossen auf den Wassern von Mutter Ganga. Shiv hätte nichts dagegen, einen zu probieren, er hätte nichts gegen irgendwas mit einem Schuss Sprit, um seine Nerven zu beruhigen, aber er kann sich hier nicht einmal das Wasser des Hauses leisten. Irgendjemand wird ihm einen ausgeben. Der einzige Blick, der seinen einfängt, gehört einem Mädchen am Geländer, allein am Rand der Spiralen der Unterhaltungen. Sie ist rot: kurzer, weicher Lederrock in Terrakottafarbe, eine Fülle von langem, glattem scharlachrotem Haar. Ein Opal steckt in ihrem Nabel. Sie trägt Stiefel aus Gavialleder mit Federn und Glöckchen, die an Riemen hängen, ein neuer Look, den Shiv während seines Exils in Scheiß-Stadt verpasst haben muss. Eine, zwei, drei Sekunden blickt sie ihn an, dann wendet sie sich ab, um in den Schacht hinunterzuschauen. Shiv lehnt sich auf das Geländer und sieht sich die Bewegung und das Licht an.