Grünes Licht. Grünes Licht ist die Rettung, ist das Leben. Thal stürmt zum grünen Licht des Aufzugs, während die Türen aufgleiten. Ys schlüpft durch den dunklen Schlitz, schlägt auf den Knopf. Die Türen schließen sich. Finger zwängen sich hindurch, tasten nach den Sensoren, den Schaltern, dem Körper, irgendetwas. Zentimeter um Zentimeter drücken sie die Tür auf.
»Da ist er, der Chuutya!«
Ys! Ys!, schreit Thal lautlos, während ys auf die Finger schlägt, mit Fäusten, mit scharfen Stiefelabsätzen. Die Finger zucken zurück. Die Tür schließt sich. Der Aufstieg beginnt. Thal hält zwei Stockwerke zu tief, um sie in die Irre zu führen, wartet, bis sich die Türen geöffnet und wieder geschlossen haben, und fährt dann einen Stock zu hoch. Als ys sich über die Treppe hinunterschleicht, die von den vielen bloßen Füßen glänzt und trotz der Trockenheit nach feuchtem Ammoniak riecht, hört ys ein lauter werdendes Stimmengeplapper. Thal schiebt sich um die Ecke. Sys Nachbarn drängen sich in Mama Bharats offener Tür. Thal wagt sich geduckt einen Schritt näher heran. Alle reden und gestikulieren, einige der Frauen halten sich schockiert den Dupatta vor den Mund. Manche verbeugen sich und wippen im Trauerritual. Männerstimmen übertönen das Geschnatter und Gewimmer, ein Wort hier, ein Satz dort. Ja, die Familie kommt, hat sich sofort auf den Weg gemacht, wer würde eine alte Frau hier ganz allein zurücklassen, schändlich, schändlich, die Polizei wird sie finden.
Noch einen Schritt näher.
Die zertrümmerte Tür zu Mama Bharats Wohnung liegt auf dem Boden. Über die Köpfe der wütenden Männer hinweg kann Thal in das entweihte Zimmer blicken. Wände, Fenster, Gemälde von Göttern und Avataren sind voller Löcher. Thal starrt auf die Löcher und weigert sich, es zu verstehen. Schusslöcher. Ys starrt einen Moment zu lange. Ein Schrei.
»Da ist er!«
Nachbar Paswans missmutige Stimme. Die Menge teilt sich und gibt eine klare Verbindungslinie zwischen Thal und Paswans anklagendem Zeigefinger und den Füßen auf dem Boden frei. Alle Köpfe drehen sich. Ihre Füße stehen in einer Blutlache. Einer Lache aus erschreckendem, frischem, rotem Blut, noch voller Leben und Sauerstoff. Es lockt bereits erste Fliegen an. Die Fliegen sind im Zimmer. Die Fliegen sind in sys Kopf.
Du bist absolut entbehrlich, hat Tranh gesagt.
Die Füße im frischen, öligen Blut. Sie sind immer noch im Gebäude. Ys dreht sich um, rennt wieder.
»Da ist er, das Monster!«, brüllt Paswan. Thals Nachbarn nehmen den Ruf auf. Die Stimme der Menge hallt pulsierend im Betonschacht des Treppenhauses wider. Thal packt das Stahlgeländer mit beiden Händen, zieht sich die Stufen hinauf. Alles tut weh. Alles schreit und stöhnt und sagt ys, dass ys am Ende ist, dass nichts mehr kommt. Aber Mama Bharat ist tot. Mama Bharat wurde erschossen, und während sich das frühe Licht dieses Augustmorgens an den Wänden hinunterschiebt, konzentriert sich all der Hass und die Verachtung, all die Furcht und Wut Bharats auf ein Neut, das sich eine Betontreppe hinaufkämpft. Sys Nachbarn, die Menschen, unter denen ys in den vergangenen Monaten so ruhig gelebt hat, wollen ys nun mit bloßen Händen zerreißen.
Ys zwängt sich an zwei Männern vorbei, die auf dem Absatz des siebten Stocks stehen. Eine Erinnerung flackert auf: Thal blickt zurück. Sie sind jung und schlank und tragen ausgebeulte Hosen und weiße Hemden, die Straßenuniform des jungen männlichen Bharati, aber irgendetwas an ihnen stimmt nicht. Etwas, das nicht zum White Fort passt. Blicke treffen sich. Thal weiß jetzt wieder, wo ys sie schon einmal gesehen hat. Damals trugen sie Anzüge, gute dunkle Anzüge. Sie waren ihm unten auf dem Treppenabsatz entgegengekommen, als Mama Bharat den Müll hinausgebracht hatte und Thal vorbeigetänzelt war, ihr einen Kuss zugehaucht hatte, völlig aufgeregt und unterwegs zum Ende von allem. Sie hatten sich umgeblickt, wie ys es jetzt tut. Ein guter Designer vergisst niemals die Details.
Du bist absolut entbehrlich.
In den Sekunden, die sie brauchen, um ihren Fehler zu erkennen, ist Thal bereits anderthalb Stockwerke weiter, aber sie sind jung und männlich und fit und tragen keine HiFashion-Stiefel und sind noch nicht die halbe Nacht gerannt.
»Aus dem Weg!«, brüllt Thal, als ys auf die tägliche Prozession der Wassermädchen aus den oberen Stockwerken stößt, die die endlosen Stufen hinuntersteigen, die Plastikkanister auf dem Kopf balancierend. Ys muss ins Freie. Das White Fort ist eine Falle, eine riesige Todesmaschine. Ys muss nach draußen. In die Menge eintauchen. Die Leute werden ys mit ihren Körpern Deckung geben. Thal biegt auf dem nächsten Absatz ab, hebelt die Tür auf und stürmt auf den äußeren Laufsteg.
Die Städteplaner von Diljit Rana, allesamt gute Neo-LeCorbusianer, haben das White Fort als Dorf im Himmel angelegt und weite sonnenbeschienene Terrassen für urbane Landwirtschaft bauen lassen. Die meisten der Parzellen mit Tröpfchenbewässerung haben sich während der langen Dürre und sanitären Krise in Flächen aus Dreck und Staub verwandelt, bis auf jene, wo nun GM-Cannabis wächst, das liebevoll und mit Mineralwasser aus der Flasche gehätschelt wird. Wilde Ziegen, fünf Generationen von ihren urbanisierten Vorfahren entfernt, grasen die Müllhaufen und ausgetrockneten Gemüsegärten ab. Auf den Betonwegen und Schutzbrüstungen des White Fort sind sie genauso trittsicher wie an ihren heimatlichen Felshängen. Die Wartungsroboter bekämpfen sie energisch mit Hochspannungstasern. Die Ziegen haben einen Geschmack für Kabelisolierungen entwickelt.
Thal rennt. Die Ziegen blicken wiederkäuend auf. Mütter reißen ihre Kinder aus dem Weg des verrückten, fliehenden, perversen Wesens. Alte Männer, die Bidis rauchen und in der Morgensonne Kreuzworträtsel lösen, verfolgten ys mit ihren Blicken, begeistert, dass etwas passiert, dass irgendetwas passiert. Junge Männer, die ansonsten nichts tun, johlen und grölen.
Die chemische Stimulation lässt immer mehr nach. Thal ist nicht zum Laufen gemacht. Ys blickt sich über die Schulter um. Waffen wippen in den Händen der Männer auf und ab. Schwarze, glänzende Pistolen. Das ändert alles auf den landwirtschaftlichen Ebenen des White Fort. Frauen zerren die Kinder nach drinnen. Alte Männer ziehen sich zurück. Junge Männer weichen aus.
»Helft mir!«, ruft Thal. Ys packt Mülleimer, Papierstapel, Körbe, alles, was die Verfolger eine Sekunde lang aufhalten könnte, und wirft sie hinter sich. Saris und Dhotis und Lungis, die tägliche Wäsche auf durchhängenden Leinen, die sich über die breiten Himmelsstraßen spannen. Thal duckt sich unter einem tropfenden Dhoti hindurch und streckt den Arm aus, um die Kleidung reihenweise herunterzureißen. Ys hört feuchte Flüche, blickt sich um und sieht, wie sich die Jäger in einem grünen Sari verheddert haben. Die Zuflucht ist in Sicht, ein Aufzug am Ende der Straße, der sich mit Schulkindern füllt. Thal springt durch die sich schließende Tür, schießt an der aufgeregten Betreuerin vorbei. Der Lift ruckt und fährt nach unten. Thal hört Stimmen. Ys blickt auf und sieht die zwei Banditen, die sich über das Geländer beugen. Sie haben ihre Waffen gehoben. Aus der Mitte der dicht gedrängten schwarzäugigen Grundschülerinnen in ihren hübschen gepflegten Uniformen winkt Thal zu ihnen hinauf.
Die Sonne schüttet kochend heißes Licht in die Straßenschluchten von Varanasi, während Thal sich durch den Stoßverkehr bewegt. Ys schlüpft zwischen den Schulkindern und Beamten in weißen Hemden auf Fahrrädern hindurch, zwischen den Straßenverkäufern und dem Ladenpersonal, den Leuten, die in den Einfahrten schlafen, und den Studenten mit Markenkleidung und japanischen Schuhen, den Rollwagen, die hoch mit Pappkisten voller Unterwäsche von Lux Macroman beladen sind, und den feinen Damen unter den Baldachinen der Fahrradrikschas. Jederzeit könnte irgendjemand aus der Menge ys von der Titelseite der Zeitung wiedererkennen, die er sich unter den Arm geklemmt hat, von den Frühstücksnachrichten auf dem Palmer, von den Schlagzeilenplakaten an den Zeitungsläden oder den Werbebildschirmen an jeder Kreuzung und an jedem Chowk. Ein Ruf, eine Hand, die nach einem Jackenärmel greift, ein »He! Sie! Halt!«, und die wimmelnde Bewegung von Individuen würde zu einem Mob kristallisieren, der nur noch ein Bewusstsein, einen Willen, eine Absicht hat.