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»Ich sollte mich vielleicht vorstellen«, ruft das Mädchen über die Schulter nach hinten. »Sie kennen mich nicht, aber ich habe das Gefühl, dass ich Ihnen etwas schuldig bin.«

»Was?«, schreit Thal, die Wange an ihren Rücken gedrückt.

»Mein Name ist Najia Askarzadah. Den ganzen Ärger haben Sie mir zu verdanken.«

29

Banana Club

Um elf Uhr hat die Polizei durch wiederholten Lathi-Einsatz die Straßen geräumt. Polizisten jagen einzelne Karsevaks durch die Galis, aber das sind nur die Rabauken, die Unruhestifter, die immer dabei sind, wenn in ihrem Revier etwas los ist. Die Gassen sind zu schmal für die Feuerwehrfahrzeuge, so dass der Löschtrupp lange Schläuche auf den Straßen ausrollt und zusammenschraubt. Wasser spritzt aus den Verbindungsstücken. Die Bewohner von Kashi blicken neidisch von ihren Veranden und offenen Läden auf das Geschehen. Aber sie kommen viel zu spät. Alles ist schon vorbei. Der alte Holz-Haveli ist zu einem Haufen aus glühenden, klirrenden Kohlen zusammengefallen. Die Feuerwehrleute können nur noch die Asche zusammenfegen und verhindern, dass das Feuer auf Nachbargebäude übergreift. Sie rutschen immer wieder auf Bananenschalen aus.

Der Angriff war gründlich und effektiv. Erstaunlich, wie schnell das Haus abgebrannt ist. Trocken wie Zunder. Die Dürre, diese lange Dürre. Leute mit Bahren bringen die Toten weg. Varanasi, die Stadt der Kremationen. Diejenigen, die zum Vordereingang hinausgerannt sind, liefen direkt den wütenden Shivajis in die Arme. Die Leichen sind in der ganzen Gasse verstreut. Eine trägt einen Autoreifen um den Hals, der bis auf den Stahldraht verbrannt ist. Der Körper ist intakt, der Kopf nur noch ein verkohlter Schädel. Ein anderes Opfer wurde mit einem Shiva-Dreizack erstochen. Eine Leiche wurde ausgeweidet und die klaffende Wunde mit brennendem Plastikmüll ausgefüllt. Die Polizisten treten die Flammen aus und zerren das Ding fort, wobei sie versuchen, möglichst nicht damit in Kontakt zu kommen. Sie fürchten die ansteckende Berührung der Hijra, des Nichtgeschlechts.

Hovercams und Handkameras wagen sich für Nahaufnahmen heran, und im Live-Studio sichten die Nachrichtenredakteure das Material und versuchen zu entscheiden, welche Haltung sie einnehmen wollen: die empörte liberale Ansicht oder den volksnahen Zorn über die Scheinheiligkeit der Rana-Regierung. N. K. Jivanjee wird um halb zwölf eine Erklärung abgeben. Redakteure lieben Geschichten mit kurzer Anlaufzeit. Das Cricketspiel war vor dem Höhepunkt beendet, der Krieg hat lediglich Bilder von bewaffneten Truppentransportern geliefert, die die lange Kurve des Damms von Kunda Khadar hinauf- und hinunterfahren, aber dieser Sex-Skandal der Ranas ist unglaublich schnell außer Kontrolle geraten, mit verkohlten Leichen und Straßenkämpfen. Insbesondere ein Schnappschuss schafft es in sämtliche Morgenmedien: die arme blinde Frau, die vom Zorn völlig überrascht wurde und der man mit einem Knüppel den Schädel eingeschlagen hat. Niemand hat eine Erklärung, warum sie eine Banane in der Hand hält.

30

Lisa

Hinter dem tropfenden Saum des Kokosfaserdachs erstreckt sich eine Welt, in der alles im Fluss ist. Im Regen sind die Palmen, die Kirche, die Stände entlang der Straße, die Straße selbst und die Fahrzeuge darauf verwaschene, fließende Grauschattierungen, die wie japanische Tuschemalerei ineinander übergehen. Die Scheinwerfer der Lastwagen sind blass und wässrig. Erde, Fluss und Himmel sind eine Kontinuität.

In ihrem formlosen Plastikcape kann Lisa Durnau nicht einmal das Ende des Landungsstegs sehen. Im Nebenraum hat sich Dr. Ghotse mit dem Versprechen eines Begrüßungstees vor den Gasbrenner gehockt. Lisa Durnau könnte auf den Chai verzichten. Sie hat immer wieder versucht, den Leuten zu erklären, ihn nur mit Wasser zu machen und ohne Zucker, aber er wird trotzdem gesüßt und milchig serviert. Eistee wäre die Ekstase. Unter ihrem erstickenden Regenzeug klebt ihr der Schweiß auf der Haut. Der Regen ergießt sich in Kaskaden von den Dachvorsprüngen.

Es hat bereits geregnet, als sie in Thiruvananthapuram gelandet ist. Ein Junge mit Schirm führte sie durch den strömenden Vorhang in die Ankunftshalle. Westler aus der Touristenklasse rannten und fluchten, während sie sich Jacken oder Zeitungen über die Köpfe hielten. Die Inder wurden einfach nur nass und sahen dabei glücklich aus. Lisa Durnau hat viele Arten von Regen gesehen, den stahlgrauen Regen des Frühlings im Nordosten, das alles durchdringende Nieseln, das tagelang hoch oben im Nordwesten niedergeht, die erschreckenden Wolkenbrüche der Präriestaaten, die sich wie ein Wasserfall aus dem Himmel ergießen und Sturzfluten und Erdrutsche auslösen. Glücklich machender Regen ist für sie etwas Neues. Das Taxi zum Hotel ist über Straßen gefahren, auf denen sich achsentief Flutwasser und schwimmender Müll staute. Die Kühe standen bis zu den Hachsen in der Überschwemmung. Fahrradrikschas pflügten durch die tanzende braune Flüssigkeit und hinterließen eine Spur aus Bierschaum. Sie beobachtete eine Ratte, die vor dem Taxi über die Straße schwamm, den Kopf tapfer erhoben. Als sie heute zwischen den Pfützen zum Landungssteg tapste, sah sie ein kleines Mädchen, das im Backwater schwamm und ein kleines Floß schob, das lediglich aus drei zusammengeschnürten Bambusrohren bestand, auf denen ein verbeulter Metalltopf balancierte. Das Haar des Mädchens klebte am Schädel wie bei einem glatthäutigen Meeressäuger, aber sie strahlte übers ganze Gesicht.

In den CIA-Instruktionen hatte man es versäumt, sie darauf hinzuweisen, dass in Kerala Monsunzeit war.

Lisa Durnau gefällt die Rolle des Regierungsspions ganz und gar nicht. Der Lightbody war kaum in einer Plasmalohe gelandet, als auch schon die Lektionen begonnen hatten. Ihre erste Einsatzbesprechung fand im Bus zum medizinischen Zentrum statt, während sie immer noch unter der Schwäche und den Schmerzen nach der Rückkehr in die Welt der Schwerkraft litt. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich umzuziehen, bevor man sie abholte und in das Flugzeug nach New York setzte. Am Kennedy Airport erhielt sie in der Limousine zur VIP-Suite Anweisungen über ihre Kontaktpersonen in den Botschaften und die Sicherheitspasswörter. Dort wurde sie in einer Ruhezone im Verwaltungsbereich von einem Mann und einer Frau im korrekten Gebrauch des Navigationsgeräts unterwiesen. Am Gate überreichte man ihr einen kleinen Koffer mit angemessener Kleidung in ihrer Größe. Nach einem ernsten Händedruck wünschte man ihr eine angenehme Reise und eine erfolgreiche Mission. Lisa öffnete den Koffer, während sie mit dem Taxi zum Hotel fuhr. Wie sie befürchtet hatte. Die Ärmel an den T-Shirts waren völlig falsch, und die Unterwäsche war schlicht unaussprechlich. Ganz unten lagen zwei zusammengefaltete schwarze Anzüge. Fast rechnete sie damit, dass Daley Suarez-Martin aus der Minibar stieg. Am nächsten Tag ging Lisa mit ihrer unerschöpflichen schwarzen Kreditkarte zum Basar und füllte den Koffer neu auf, für weniger als den Preis eines Schlüpfers von Abercrombie and Fitch. Einschließlich Regenzeug.

»Ja, es ist ein wunderbarer Anblick«, sagt Dr. Ghotse. Lisa Durnau zuckt zusammen. Sie hat sich von den Regenfingern am Dach hypnotisieren lassen. Er steht da, in jeder Hand eine Tasse Chai. Der Tee ist, wie sie befürchtet hat, aber er hebt tatsächlich ihre Stimmung. Das Boot riecht feucht und vernachlässigt. Die Vorstellung, dass es Thomas Lull hierher verschlagen hat, gefällt ihr nicht. Sie kann sich die Szenerie bei keinem anderen Wetter vorstellen als in diesem endlosen weißen Regen. Sie hat die tantrischen Symbole auf den Dachmatten gesehen und den Namen in Weiß auf dem Bug gelesen: Salve Vagina. Kein Zweifel, dass Thomas Lull hier gewesen ist. Aber sie hat sich vor dem gefürchtet, was sie hier vorfinden würde: Lulls Sachen, Lulls Leben nach ihr, nach Alterre, Lulls neue Welt. Nachdem sie jetzt gesehen hat, wie wenig vorhanden ist, wie ärmlich und spärlich die drei Kokosmattenkabinen eingerichtet sind, verwandelt sich ihre Besorgnis in Melancholie. Es ist, als wäre er gestorben.