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Bis jetzt. In einem keralesischen Chai-Laden kam es ihr wie ein Spiel, wie Spielzeug vor. Eine Freakshow im Taschenformat. Auf dem großen Flachbildschirm lief eine Soap. Alle Blicke waren darauf gerichtet. Sie hatte gelesen, dass nicht nur die Figuren von Kaihs generiert wurden, sondern auch die Schauspieler, die sie darstellten. Ein gigantisches Lügengebäude drohte das Drama zu erdrücken, wie die großen überzuckerten Türme, die die Tempelarchitektur der Drawiden dominierten. Es gibt nicht nur eine Cybererde, erkannte sie. Es gibt Tausende.

Kumarmangalam war pünktlich nach einer halben Stunde wieder da. Das war etwas, das ihr allmählich über diese fremdartige Welt klar wurde. Sie war nur oberflächlich chaotisch. Dinge wurden erledigt, ordentlich erledigt. Man konnte sich darauf verlassen, dass die Leute für einen die Taschen trugen, die Kleidung wuschen oder sich auf die Suche nach einem früheren Liebhaber machten. Die Straßenjungen zwängten sich in den Chai-Laden. Der Besitzer bedachte die Frau aus dem Westen mit strengen Blicken. Die anderen Gäste rückten mit ihren Stühlen zur Seite und beklagten sich, dass sie den Fernseher nicht mehr hören konnten. Kumarmangalam stand neben Lisa und brüllte verschiedenen Jungen etwas zu, und sie schienen ihm sogar zu gehorchen. Er hatte bereits die Rolle ihres Feldwebels übernommen. Wie Lisa vermutet hatte, beherrschten die meisten höchstens ein Guten-Tag-danke-auf-Wiedersehen-Englisch, aber sie fächerte trotzdem die Fotos von Thomas Lull auf dem Tisch aus.

»Eins für jeden«, wies sie Kumarmangalam an. Hände zerrten an den Ausdrucken, als der Rikscha-Junge sie austeilte. Einige schickte er ohne Foto weg, anderen hielt er eine lange Rede auf Malayalam. »Also, ich suche nach diesem Mann. Sein Name ist Thomas Lull. Er ist Amerikaner, aus Kansas. Könnt ihr euch das merken?«

Kansas, riefen die Straßenjungen im Chor zurück.

Sie hielt ein Porträtfoto hoch. Es war die PR-Aufnahme seines Verlags, die gefühlvolle, die ihn auf einen Arm gestützt weise lächelnd zeigte. Er hatte sie gehasst.

»So hat er vor ungefähr vier Jahren ausgesehen. Er könnte noch hier sein, aber vielleicht ist er auch weitergezogen. Ihr wisst, wohin die Touristen gehen, wo die Leute wohnen, die hier bleiben wollen. Ich möchte wissen, wo er ist oder wohin er gegangen ist. Habt ihr verstanden?«

Ein ozeanisches Raunen.

»Gut. Ich werde Kumarmangalam etwas Geld geben. Jetzt gibt es einhundert Rupien. Wenn ihr mit Informationen zurückkommt, kriegt ihr weitere vierhundert. Ich werde die Informationen überprüfen, bevor ich euch bezahle.«

Kumarmangalam übersetzte. Köpfe nickten. Sie nahm ihren Feldwebel zur Seite und gab ihm das Bündel Geldscheine.

»Und hier sind deine zweihundert. Du bekommst noch einmal tausend, wenn du diese Leute im Auge behältst.«

»Lady, ich werde sie auf Linie halten, wie man im amerikanischen Englisch sagt.«

Während ihres ersten Jahres in Keble hatte Lisa Durnau den Crashkurs in Anglophilie mitgemacht und den kompletten Sherlock Holmes gelesen. Sie hatte schon immer den Eindruck gehabt, dass die Baker-Street-Spezialeinheit viel zu wenig Publicity bekam. Jetzt hatte sie ihre eigene Straßenkindertruppe. Als Kumarmangalam sie durch den Regen zum Hotel zurückfuhr, stellte sie sich vor, wie sie durch die Stadt rannten, hier in einem Geschäft verschwanden, dort in einem Café, einem Restaurant, einem Tempel, einem Reisebüro, einer Wechselstube, einer Anwaltskanzlei, einem Immobilenbüro, einem Pfandhaus. Dieser Mann dieser Mann? Sie empfand eine große Zufriedenheit. Frauen waren einfach die besten Privatdetektive.

Im Hotel schwamm sie fünfzig Bahnen im Pool, während der Regen auf sie niederprasselte und die Angestellten sich unter einer Markise zusammenkauerten und sie mit ernster Miene beobachteten. Danach zog sie sich einen Sarong und ein Top an, das mit farbenfrohen blauen Göttern bedruckt war, und nahm ein Phatphat, um die Orte zu besuchen, wo auch Thomas Lull gewesen sein musste, die Touristenbars, in denen man Mädchen treffen konnte.

Der Regen verlieh den Bars und Tanzclubs in den Obergeschossen eine neue trostlose Lasur. Die Westler, die dumm genug waren, sich in der Stadt vom großen Wolkenbruch überraschen zu lassen, waren allesamt Spione aus Wirtschaft und Politik. Die Clubbesitzer und Barbetreiber und Restaurantinhaber, die den Kopf schüttelten und die Lippen schürzten, als sie ihnen die Fotos zeigte, waren selbst Möchtegern-Lulls, übergewichtig und mit schütterem Haar, in XL-Beach-Shirts, die wie Rahsegel von ihren Bäuchen hingen. Die Bar-Boys erhoben sich von ihren Stühlen und klinkten sich ins Gespräch ein, um vielleicht eine Hand unter ihren V-String schieben zu können. Sie klapperte zwanzig Bars ab und konnte dann nicht mehr. Während sie im Phatphat heimwärts summte, saß sie hypnotisiert vom Rhythmus des Regens im Scheinwerferlicht da und wunderte sich, warum sich Wolken niemals trocken regneten. Im Hotel versuchte sie CNN zu schauen, aber das alles kam ihr so fremdartig und bedeutungslos vor wie Alterre. Ein Bild jedoch blieb hängen: wie der warme Monsunregen auf einen Eisberg im Golf von Bengalen niederging.

Kumarmangalam kreiste bereits auf seiner Rikscha, als sie sich am nächsten Morgen hinauswagte. Er fuhr mit ihr einen großen Bogen durch den Verkehr und brachte sie zu einem Internet-Shop auf der anderen Straßenseite. In diesem Land ging niemand zu Fuß. Wie zu Hause.

»Dieser Junge hat Informationen«, sagte er. Lisa war sich nicht einmal sicher, ob er zu der Horde vom Vortag gehört hatte. Der Junge wedelte mit seinem Foto.

»Vierhundert Rupien vierhundert Rupien.«

»Zuerst überprüfen wir die Sache. Dann bekommst du das Geld.«

Kumarmangalam bedachte den Jungen wegen seiner Dreistigkeit mit einem strengen Blick. Sie fuhren mit seiner Rikscha. Der Junge würde niemals hinten bei einer Frau aus dem Westen sitzen, also hing er sich vor Kumarmangalam ans Fahrrad, die Füße auf den Achsenschrauben, mit dem Rücken gegen das Lenkrad gelehnt, und steuerte den Rikscha-Wallah durch den Verkehr. Es war ein langer, schwerer Weg. Mehrere Male stieg Kumarmangalam ab und schob. Der Junge half ihm. Lisa Durnau klammerte sich an ihre Handtasche, geplagt vom schlechten Gewissen ihrer presbyterianischen Arbeitsethik. Schließlich rollten sie hügelabwärts und durch einen mit Filmi-Flyern wildplakatierten Torbogen in einen Hof, der von Holzbalkonen und Säulengängen im keralesischen Stil gesäumt wurde. Eine Kuh kaute durchnässtes Stroh. Männer blickten von einer Batterie Nähmaschinen auf. Der Junge führte sie eine Treppe hinauf an einem Versicherungsbüro und einem ayurvedischen Großhändler vorbei zu einem offenen Büro unter dem abblätternden Schriftzug Gunaratna Lotusschiff-Vermietung. Ein ergrauter Malayali und ein jüngerer Westler in Surfer-T-Shirt blickten auf.

»Sie kommen wegen des Herrn auf dem Foto?«, fragte der Einheimische namens Gunaratna. Lisa Durnau nickte. Mr. Gunaratna verscheuchte die Straßenjungs mit einem Wink aus seinem Büro. Sie hockten sich auf die Galerie und lauschten angestrengt.

»Wegen dieses Mannes.« Sie schob die Lade wie ein Pokerspieler über den Tresen. Gunaratna zeigte seinem Mitarbeiter das Bild. Der nickte.

»Es ist schon eine Weile her.« Er war Ozeanier — vielleicht aus Oz, vielleicht aus Enzed. Lisa hatte sie noch nie auseinanderhalten können, aber schließlich gab es sogar Leute, die Kanadier nicht von US-Amerikanern unterscheiden konnten.