»Das ist eine Reisegenehmigung, das ist Ihr vorläufiger Ausweis, das ist Ihr Ticket«, erklärte er, während er mit dem Kugelschreiber darauf zeigte. »Die Busse fahren vor dem Durga-Tempel ab, Ihr Bus hat die Nummer 19. Ich möchte Ihnen das Bedauern der Regierung von Bharat wegen Ihrer Unannehmlichkeiten aussprechen und wünschte Ihnen eine sichere Weiterreise.« Dann zeigte er mit dem Stift auf die Frauen, die hinter ihm Schlange standen.
»Meine Reisegefährtin, eine junge Frau, mit einer Vishnu-Tilaka?«
»Alle werden zu den Bussen vor dem Tempel geschickt. Gott sei mit Ihnen, Sir.«
Der Subalterne entließ Thomas Lull mit einem Wink seines Kugelschreibers. Die Dorfstraße wurde von Fahrzeugscheinwerfern erhellt. Thomas Lull ging zwischen aufgereihten Leichen hindurch, die nah wie Liebende nebeneinanderlagen. Als er die Hälfte der Strecke zu den weißen Bussen zurückgelegt hatte, waren der Armee die Leichensäcke ausgegangen, und die Toten blieben unverhüllt. Er bemühte sich, im Gestank nach verkohltem Fleisch möglichst flach zu atmen. Sanitäter der Armee waren bereits dabei, die Hornhäute einzusammeln.
»Kij!«, rief er. Kamerablitze zuckten, Kameralichter wippten, als Nachrichtenteams nach Schnappschüssen suchten. Hinter dem Wald aus Mikrofongalgen entfalteten sich Satellitenschüsseln wie erblühte Mohnblumen auf den Übertragungswagen. »Kij!«
»Lull! Lull!« Eine blasse Hand winkte aus einem Busfenster. Die Tilaka fing das Licht auf. Lull drängte sich durch die Menge und kehrte den Kameras mit amerikanischen Logos den Rücken zu. »Du warst so lange weg«, sagte sie, als er sich neben sie fallen ließ.
»Sie wollten ganz sichergehen, dass ich kein ausländischer Agent bin. Was ist mit dir? Ich dachte schon, mit diesem Zeichen ...«
»Ach, man hat mich sofort gehen lassen. Ich glaube, sie hatten Angst.«
Der Bus fuhr durch den Rest der Nacht und den ganzen folgenden Tag. Stunden verwischten zu Hitze und flachem Land und Dörfern mit gemalten Werbeplakaten für Wasser und Unterwäsche und dem ständigen Tröten von Fahrzeughupen. Doch Thomas Lull sah nur rotäugige Leichen auf der Dorfstraße und Kij auf einem Knie, wie sie die Hand ausstreckte und die feindlichen Roboter gehorchten.
»Ich muss dich fragen ...«
»Ich habe ihre Götter gesehen und gefragt. Das habe ich auch den Soldaten gesagt. Ich hatte den Eindruck, dass sie mir nicht glaubten, aber sie hatten offenbar Angst vor mir.«
»Roboter haben Götter?«
»Alles hat einen Gott, Mr. Lull. Man muss ihn nur finden.«
Am nächsten Toilettenhalt kaufte Thomas Lull eine Zeitung, um sich zu überzeugen, dass seine zersplitterten Eindrücke und Erlebnisse reale Erinnerungen waren. Bharati-Hindutva-Extremisten hatten in bedauernswertem patriotischem Übereifer einen Shatabdi der Awadhi Rail überfallen (so hieß es im Leitartikel), aber die tapferen Jawans der Division Allahabad hatten den brutalen und ungerechtfertigten Vergeltungsangriff der Awadhis zurückgeschlagen.
Ganz gleich, wie liberal ein Westler eingestellt sein mag, es gibt immer wieder Aspekte Indiens, die ihn schockieren. Für Thomas Lull ist es der dicht unter der Oberfläche begrabene Zorn und Hass, der einen lebenslangen Nachbar dazu bringen kann, in das Haus seines Nachbarn einzudringen, ihm mit einer Axt den Schädel zu spalten, seine Frau und seine Kinder in ihren Betten zu verbrennen und anschließend, wenn alles getan und vorbei ist, sein nachbarliches Leben fortzusetzen. Selbst auf den Ghats zwischen den Gläubigen und Dhobi-Wallahs und Straßenhändlern, die den letzten Zipfel des Touristengeschäfts zu erwischen versuchen, ist der Mob immer nur einen Ruf entfernt. In seiner Philosophie gibt es dafür keine Erklärung.
»Es gab einmal eine Zeit, als ich dachte, ich könnte vielleicht mit den Sundarbans zusammenarbeiten«, sagt Thomas Lull. »Das war, nachdem ich vor dem Hamilton-Ausschuss ausgesagt habe. Ihr Misstrauen war durchaus gerechtfertigt, denn die Idee hinter Alterre bestand zur Hälfte darin, ein alternatives Ökosystem zu schaffen, in dem sich Intelligenz unter ihren eigenen Bedingungen entwickeln kann. Ich glaube nicht, dass ich in den Staaten hätte bleiben können. Ich stelle mir gern vor, dass ich den Anschuldigungen ebenso unerschütterlich und mit edler Gesinnung entgegengetreten wäre, wie es Chomsky in den Bush-Kriegen getan hat, aber ich bin ein absolutes Weichei, wenn ich es mit bewaffneter Staatsgewalt zu tun bekomme. Die meiste Angst hatte ich davor, völlig ignoriert zu werden. Dass ich schreibe und rede und spreche und keine Menschenseele mir zuhört. Eingesperrt in einem weißen Zimmer. Ins Kopfkissen schreien. Das ist schlimmer als der Tod. Das hat Chomsky am Ende fertiggemacht. Von Dummheit erstickt.
Ich wusste, was hier geleistet worden war. Jeder, der irgendwas mit Kaihs macht, hat eine gute Vorstellung davon, was sie in ihren Cyberabads verstecken. Während des Monats vor Inkrafttreten des Hamilton-Gesetzes wurden Bevabytes an Informationen aus den USA verschoben. Washington hatte alle indischen Staaten unter großen Druck gesetzt, die Internationalen Vereinbarungen zur Registrierung und Lizensierung Künstlicher Intelligenzen zu ratifizieren. Und ich dachte, dann hätten sie wenigstens irgendjemanden, der für sie spricht, eine amerikanische Stimme, die den Standpunkt der Gegenseite vertritt.
Jean-Yves und Anjali wollten, dass ich rüberkomme — ihnen war klar, wie die Sache laufen würde. Selbst wenn Awadh sich den Wünschen Washingtons fügt, konnten sie sich von den Ranas in Sachen Lizensierung nicht mehr erhoffen als eine Kompromissvereinbarung, um die Soapis bei Laune zu halten. Dann verließ mich meine Frau und nahm die Hälfte meines weltlichen Besitzes mit, und ich dachte, ich wäre bei mir und intellektuell und cool, aber ich war nichts von alledem. Ich war das Gegenteil von dem, was ich von mir selber dachte. Ich glaube, eine Zeitlang war ich verrückt, und ich glaube, dass ich immer noch nicht ganz klar bin. Mann, ich kann es einfach nicht fassen, dass sie tot sind.«
»Was glaubst du, woran sie in den Sundarbans gearbeitet haben?«
Kij hockt im Schneidersitz auf einem Holzpodest, wo die Priester die abendliche Puja für Ganga Devi zelebrieren. Immer wieder blicken die Gläubigen lange auf ihre Tilaka, eine Vishnuitin im Herzen der Verehrung Shivas.
»Ich glaube, sie hatten dort eine Generation Drei.«
Kij spielt mit einer Kette aus Tagetesblütenblättern. »Haben wir die Singularität erreicht?«
Thomas Lull zuckt zusammen, als das abstruse Wort wie eine Perle von Kijs Lippen fällt.
»Okay, Mystery-Girl, was verstehst du unter Singularität?«
»Ist damit nicht der theoretische Punkt gemeint, wenn die Kaihs erstmals so intelligent wie Menschen werden, um sie dann sehr schnell hinter sich zu lassen?«
»Meine Antwort darauf ist ja und nein. Ja, es gibt da draußen zweifellos Kaihs der Generation Drei, die genauso lebendig und bewusst und empfindsam sind wie ich. Aber sie werden uns Menschen nicht allesamt zu Sklaven oder zu Haustieren machen oder uns mit Atombomben auslöschen, weil sie glauben, dass wir mit ihnen um dieselbe ökologische Nische konkurrieren. Das ist der Gedanke von Hamilton, aber mit Denken hat das nichts zu tun. Damit kommen wir zum ›Nein‹-Teil der Antwort: Sie sind intelligent, aber auf andere Weise als Menschen. Künstliche Intelligenz ist eine fremde Intelligenz. Sie ist eine Reaktion auf bestimmte Umwelteinflüsse und Reize, und bei dieser Umwelt handelt sich um die Cybererde, wo ganz andere Regeln herrschen als auf der Realerde. Die erste Regel der Cybererde lautet: Informationen lassen sich nicht bewegen, sie müssen kopiert werden. Auf der Realerde ist die physische Bewegung von Informationen ein Kinderspiel, wir tun es jedes Mal, wenn wir aufstehen und die Bewusstseinsware in unseren Köpfen herumtragen. Kaihs können das nicht, aber sie können etwas, das wir nicht können. Sie können sich selbst kopieren. Ich habe keine Ahnung, wie sich das auf das Ich-Bewusstsein auswirkt, und streng genommen kann ich es auch gar nicht wissen. Für uns ist es eine philosophische Unmöglichkeit, gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten zu sein, aber für Kaihs gilt das nicht. Für sie ist die philosophische Tragweite der Frage, was man mit seiner zusätzlichen Kopie macht, wenn man sich in eine neue Matrix begibt, von fundamentaler Bedeutung. Stirbt ein vollständiges Ich, oder ist es nur Teil einer größeren Gestalt? Und schon haben wir es mit einer völlig fremdartigen Denkweise zu tun. Wenn die Kaihs also wirklich die Singularität erreicht haben und ihr IQ in die Millionen hochschießt, was bedeutet das eigentlich in menschlichen Begriffen? Wie wollen wir so etwas messen? Womit wollen wir es vergleichen? Intelligenz ist keine absolute Eigenschaft, sie ist immer umweltspezifisch. Kaihs müssen keine Börsenkrisen auslösen oder Atomraketen starten oder unser planetares Netz zerschlagen, um die Menschen in die Schranken zu weisen. Es gibt keine Konkurrenz, weil diese Dinge in ihrem Universum keinerlei Bedeutung oder Relevanz haben. Wir sind Nachbarn in Paralleluniversen, und solange wir als Nachbarn leben, werden wir friedlich und zu gegenseitigem Nutzen koexistieren. Aber die Hamilton-Gesetze bedeuten, dass wir den Kampf gegen unsere Nachbarn aufgenommen haben und sie vernichten wollen. Irgendwann kommt der Punkt, wo sie sich wehren, wie alles, was mit dem Rücken zur Wand steht, und dann wird es zu einem furchtbaren, erbitterten Kampf kommen. Es gibt keinen schlimmeren Kampf als den zwischen Göttern, und wir sind Götter füreinander. Für die Kaihs sind wir die Götter. Unsere Worte können das Erscheinungsbild ihrer Welt verändern. Das ist die Realität ihres Universums. Nichtmaterielle Wesen, die jeden Teil der Wirklichkeit widerrufen können, sind genauso fundamental für ihre Welt wie die Unschärferelation und die M-Stern-Theorie für unsere. Früher lebten wir in einem Universum, das genauso dachte, in dem die Geister und Vorfahren und alles andere durch die göttliche Welt zusammengehalten wurde. Wir brauchen uns gegenseitig, um unsere jeweiligen Welten aufrechtzuerhalten.«