»Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit«, sagt Kij leise. »Vielleicht muss es nicht zum Krieg kommen.«
Thomas Lull spürt einen Windhauch auf dem Gesicht, das ferne Tigerschnurren eines Donners. Es kommt.
»Das wäre doch mal was!«, sagt er. »Wenn es ausnahmsweise ganz anders laufen würde. Aber nein, wir leben im Zeitalter Kalis.« Er steht auf, klopft sich herangewehten Sand und menschliche Asche von der Kleidung. »Also komm mit.« Er streckt Kij eine Hand hin. »Ich gehe zum Computerinstitut der University of Varanasi.«
Kij legt den Kopf schief. »Professor Naresh Chandra ist heute da, aber du solltest dich beeilen. Du musst mir verzeihen, dass ich dich nicht begleiten werde, Lull.«
»Wohin gehst du?« Gesprochen wie ein gekränkter Liebhaber.
»Das Bharati National Records Office an der Raja Bazaar Road hat bis fünf Uhr geöffnet. Da alle anderen Methoden versagt haben, denke ich, das ein Mitochondrien-DNS-Profil mir verraten wird, wer meine wirklichen Eltern sind.«
Der zunehmende Wind zerzaust ihr kurzes Haar und lässt Thomas Lulls Hosenbeine wie Fahnen flattern. Unten auf dem plötzlich aufgewühlten Wasser steuern die Ruderboote dem Ufer zu.
»Bist du dir sicher, dass du das tun willst?«
Kijs Finger spielen unablässig mit dem Elfenbeinpferd. »Ja. Ich habe darüber nachgedacht, und ich will es wissen.«
»Dann viel Glück.« Ohne nachzudenken, gegen seinen Willen, umarmt Thomas Lull sie. Sie ist schlank und knochig und so leicht, dass er fürchtet, sie könnte wie etwas Gläsernes zerbrechen.
Thomas Lull bildet sich ein, die männliche Gabe zu besitzen, sich an Orten, die er ein einziges Mal besucht hat, fortan unfehlbar zurechtzufinden. Was der Grund ist, warum er sich innerhalb von zwei Minuten verlaufen hat, nachdem er aus dem Phatphat gestiegen ist, das ihn zu dem grünen Rasen der University of Bharat Varanasi gebracht hat. Das Gelände war zu achtzig Prozent Baustelle gewesen, als Thomas Lull dort seine Vorlesung vor dem im Entstehen begriffenen Computerinstitut gehalten hat.
»Entschuldigen Sie«, fragt er einen Mali, der während der schlimmsten Dürre in der kurzen Geschichte Bharats unerklärlicherweise Gummistiefel trägt. Hinter den hellen, luftigen Institutsgebäuden türmen sich die Wolken tief und dunkel, von zuckenden Blitzen gesäumt. Der heiße Wind weht jetzt stärker — der elektrische Wind. Er könnte diese zerbrechliche Universität in den Himmel emporreißen. Lass es regnen lass es regnen lass es regnen, betet Thomas Lull, als er am Chowkidar vorbei die Treppe hinaufrennt und durch die Doppeltür in das Institutsbüro stürmt, wo acht junge Männer und eine Frau mittleren Alters sich mit Soapi-Magazinen Luft zufächern. Er sucht sich die Frau aus.
»Ich möchte Professor Chandra sprechen.«
»Professor Chandra ist derzeit unabkömmlich.«
»Oh, ich weiß es von höchster Stelle, dass er hier in seinem Büro sitzt. Wenn Sie ihn bitte anrufen würden.«
»Das ist höchst regelwidrig«, sagt die Sekretärin. »Termine müssen im Voraus über sein Büro vereinbart und vor zehn Uhr früh am Montag in seinen Terminkalender eingetragen werden.«
Thomas Lull parkt seinen Hintern auf dem Schreibtisch. Sein Dickkopf macht sich bemerkbar, aber er weiß, dass man indischer Bürokratie nur mit Geduld, Bestechung oder einem hohen Rang beikommen kann. Er beugt sich vor und drückt sämtliche Knöpfe der Sprechanlage.
»Wären Sie so gut, Professor Chandra mitzuteilen, dass Professor Thomas Lull ihn dringend sprechen möchte?«
Hinten im Korridor öffnet sich eine Tür.
32
Parvati
Es hatte am Bahnhof begonnen. Die Gepäckträger waren Diebe und Gundas, die Sicherheitsüberprüfungen eine empörende Unhöflichkeit für eine ehrenhafte Witwe aus einem loyalen Dorf in einem friedfertigen Distrikt. Der Taxifahrer hatte ihren Koffer ohne jede Vorsicht in den Kofferraum geworfen, und als er endlich losgefahren war, hatte er die längste Route genommen, war gerast und zwischen den Bussen hin und her geflitzt, um einer alten Dame vom Land Angst zu machen, und nachdem er sie fast zu Tode erschreckt hatte, verlangte er weitere zehn Rupien, wenn er ihren Koffer die vielen Stufen hinauftragen sollte, und sie musste ihm das Geld geben, weil sie es selbst nie geschafft hätte, nachdem sie sich wegen der schrecklichen Abgase in dieser Stadt fast die Lungen aus dem Leib gehustet hatte. Und nun hat der Chai, den die Köchin ihr gebracht hat, einen säuerlichen Geschmack, weil es in dieser Stadt nie gutes sauberes Wasser gibt.
Parvati Nandha scheucht die missmutige Köchin fort, begrüßt ihre Mutter mit der angemessenen Leidenschaft einer Tochter und beauftragt die Putzfrau, die Koffer zum Gästezimmer zu tragen und alles vorzubereiten.
»Ich werde dir eine richtige Tasse Chai machen, und danach gehen wir hinauf aufs Dach.«
Mrs. Sadurbhai wird weich wie eine Ghee-Skulptur bei einer Mela.
Die Putzfrau gibt Bescheid, dass das Zimmer fertig ist. Während ihre Mutter losgeht, um es zu inspizieren und ihre Sachen auszupacken, beschäftigt sich Parvati mit dem Kessel und wischt und putzt alle Reste ihrer Erniedrigung beim Cricketspiel fort.
»So etwas solltest du nicht tun müssen«, sagt Mrs. Sadurbhai, als sie sich neben Parvati und den Kessel schiebt. »Das Mindeste, was man von einer Köchin erwarten kann, ist die Befähigung, eine Tasse Chai zuzubereiten. Und diese Putzfrau betrügt dich. Ein ausgesprochen faules Mädchen. Unter dem Bett habe ich Wollmäuse gefunden. Du musst strenger mit dem Personal sein. Hier.« Sie stellt eine knallbunte Packung Tee auf die Arbeitsplatte. »Etwas mit richtigem Aroma.«