»Du glaubst also, daß er wirklich übers Meer kommen wird?« fragte sie. »Die Josele-Wahace-Avenue herauf?«
»Erscheint mir logisch«, erwiderte Asam. »Auf jeden Fall kommt da irgend etwas. Dein Computer, der das alles geplant hat, scheint keine Raffinessen zu scheuen.«
Sie nickte.
»Was für eine Kombination! Obie, Brazil und Zigeuner!« Sie schwieg kurze Zeit. »Zigeuner… Ich würde gern mehr über ihn wissen. Wer er ist. Was er ist. Er macht mir Angst, obwohl er auf unserer Seite steht. Er gleicht selbst einem Obie, diese ganze Computerkapazität in einem einzigen Wesen.«
»Aber dein Computer hat das zumeist bei anderen Leuten gemacht«, betonte Asam. »Dieser Zigeuner kann es nur bei sich selbst.«
»Sagt er«, gab sie zurück. »Ich bin nicht sicher, ob ich ihm ganz traue.«
»Dein Computer hat ihm vertraut«, erklärte er.
Sie nickte.
»Aber wenn er ebenso mächtig ist wie Obie, könnte Obie getäuscht worden sein. Er ist allzu passend, zu gut, um wahr zu sein.«
»Wir können nichts dagegen tun«, sagte er gleichmütig. »Wenn die Zeit kommt, werden wir es wissen — und uns dann damit befassen, so gut wir können. Was bleibt uns sonst übrig?«
Sie nickte mürrisch. Bei der ganzen Sache gab es ohnehin schon zu viele anrüchige Dinge. Genug, um Ortega und den Rat zu täuschen? Sie war ihrer Sache nicht sicher. Wer machte eigentlich wem etwas vor?
Die Armee brach auf. Zunächst ging es verhältnismäßig leicht, hinauf durch Gedemondas auf genau erkundeten Wegen, in langen Reihen lagernd, wo es ging, mit Nachtwesen als Lagerposten. In Gedemondas rechnete man natürlich mit Widerstand, und es machte Asam Sorgen, daß sie so weit auseinandergezogen und in kalten, großen Höhen so verwundbar waren. Aber nichts stellte sich ihnen entgegen. Zigeuner hatte recht gehabt; sie würden nicht aufgehalten werden, bis irgendwo, irgendwann Brazil auftauchte.
Mavra hatte gehofft, unterwegs Gedemondaner zu treffen oder in ihre Reihen mit aufzunehmen, aber wie üblich ließen sie sich nicht blicken. Gelegentlich wurde einer weitab entdeckt, oder sie hörten die unheimlichen Rufe der riesigen weißen Wesen von Bergpässen und Felswänden zurückschallen, aber das war alles. Sie war mehr als enttäuscht; sie hatte das Gefühl, den ganzen verdammten Ausflug umsonst gemacht zu haben.
An der Westseite des Gebirges gab es eine Ebene, das einzige flache Gelände im ganzen Hex. Als sie vom hohen Steig aus darauf hinunterblickte, regte sich zum erstenmal ihre Erinnerung.
Diese Ebene, jetzt so leer und friedlich… Sie erinnerte sich an eine ferne Zeit, als ganz andere Armeen sich auf dieser Ebene zu einer grauenhaft blutigen Schlacht begegnet waren.
Unten auf der Ebene waren die Empfindungen noch stärker. Sie waren gerade noch durchgekommen, bevor die großen Armeen aufeinandergestoßen waren, erinnerte sie sich. Und dort drüben, an dieser Hütte waren sie ihrem dillianischen Führer begegnet — nein, nicht an dieser, sondern vielleicht an ihrer Vorgängerin. Und dort, aus dem Norden, waren auf mächtigen, schlagenden Orangeflügeln die Yaxa gekommen…
Sie sprach viel mit Asam darüber, der ihr engster Freund und Vertrauter geworden war. Er war warmherzig, gütig und verständnisvoll — und fasziniert von ihren Erinnerungen an ein großes Ereignis, das er nur aus Geschichtsbüchern kannte.
Alestol im Süden mit seinen fleischfressenden Pflanzen, die giftige und hypnotische Gase abgaben, ließen sie gern links liegen. Die Alestolier hatten sich an der Grenze in Massen aufgebaut, das traf zu, konnten aber an die Armee nicht heran, wenn sie die Grenze nicht überschritt. Obwohl beweglich, waren die Bewohner Pflanzen, sie mußten sich ab und zu in einem Boden verwurzeln, der eine bestimmte Mischung an Mineralen und Schwebstoffgasen enthielt, die für ihr Fortbestehen nötig waren.
Damit war Palim als Brennpunkt intensiver diplomatischer Tätigkeit geblieben. Der Rat hatte ebenso wie Mavras Streitmacht auf die riesenhaften Elefantenwesen eingewirkt. Sie besaßen ein hochmodernes Hochtech-Hex, und jeder der Bewohner wog über eine Tonne.
Aber sie waren sanfte Riesen; sie hatten sich zurückgezogen, als die kämpfenden Heere im Krieg des Sechseck-Welt nähergekommen waren, und hatten einem sicheres Geleit geboten, ohne Partei zu ergreifen. Im gesamten Hex gab es nie mehr als ungefähr zwanzigtausend Palim gleichzeitig, aus denen die gesamte Rasse bestand. Sie sahen keinen Gewinn im Kampf und hatten sich im Rat der Stimme enthalten. Sie hielten sich auch jetzt heraus.
Aber hundertzwanzig von ihnen, alles Neuzugänge, alles ehemalige Olympierinnen, schlossen sich dem Heer an. Sie waren willkommen. Als Pflanzenfresser würden sie die Vorräte nur wenig beanspruchen, aber sie konnten zehnmal soviel tragen wie jeder Dillianer, ohne das überhaupt zu spüren — und schon ihr Anblick war furchterregend.
Danach kam Olborn, das Mavra Tschang immer noch mit Alpträumen heimsuchte. Eine Theokratie, deren Zauberkünste Feinde, Andersdenkende und sogar harmlose Reisende in eselartige Lasttiere verwandeln konnten, hatte das mit ihr auch so gemacht. Viele Jahre lang hatte sie, halb Mensch, halb Esel, leiden müssen. Ihr einziger Trost war der, daß der weit zurückliegende Krieg sie nicht verschont hatte.
Und trotzdem hatten sie sich im Rat der Opposition angeschlossen. Sie mußte sich die Frage stellen, ob ihr Name nach all den Jahrhunderten in Olborn noch immer verflucht wurde.
Und tatsächlich berichteten ihnen an der Grenze ihre fliegenden Späher, daß eine große Streitmacht der Olbornier sie erwarte. Sie brachten sogar Fotografien mit von den aufmarschierten Truppen, großen Katzen, die aufrecht gingen und eine Art Livree trugen, was auf eine wohlorganisierte Armee hinwies.
»Sollte verhältnismäßig einfach sein«, meinte Mavra, als sie die Aufnahmen betrachtete. »Das sieht genauso aus wie damals vor tausend Jahren, als sie gegen die Makiem-Allianz unterlagen. Wir fallen ihnen in die Flanke und vernichten sie.«
Asam schüttelte besorgt den Kopf.
»Nein. Denk nach. Für mich und die meisten auf der Sechseck-Welt mag das weit in der Vergangenheit liegen, aber das war in ihrer Geschichte das bedeutsamste Ereignis, ganz zu schweigen davon, daß es auch das demütigendste gewesen ist. Ich glaube einfach nicht, daß sie so dumm sein und das noch einmal machen werden. Das ist natürlich nur ein Gefühl bei mir — aber hier stinkt etwas zum Himmel.«
»Ich weiß nicht…«, meinte sie zögernd.
»Wir gehen ganz nah an die Grenze heran, aber nicht gleich hinüber«, sagte er entschieden. »Ich will das Gebiet bei Tag und Nacht genauer erkunden lassen. Sie sehen Zielscheiben viel zu ähnlich.«
»Das sind Maschinengewehre, was sie da haben«, erklärte sie.
»Und Geschützstellungen. Mühelos geht das nicht — vor allem in dem Sumpfgebiet da, das über fünfzehnhundert Meter tief ist. Sie haben es gerodet, siehst du? Wir kommen da nach den Bäumen auf fünfzehnhundert Meter offenem Gelände an sie heran, wo es noch dazu sumpfig ist, vielleicht sogar schlammig.«
»Du denkst zuviel an die Vergangenheit«, sagte er. »Ich kenne mich hier ein bißchen aus. Dieser verdammte Krieg war für mich das Interessanteste in den Geschichtsbüchern, Himmel noch mal! Nachdem die Kätzchen von der Trelig-Allianz vernichtet worden waren, gab das ihrer Religion den Rest. Ich meine, wie kann man das auserwählte Volk der Sechseck-Welt sein und so niedergemacht werden? Sie wendeten sich gegen die Priester, es gab ein gewaltiges Massaker und eine echte Revolution. Schließlich übernahmen natürlich neue, starke Führer das Kommando. Man richtete erneut eine harte Herrschaft ein, diesmal mit dem Rest des Militärs und der Aristokratie. Sie wurden niedergetrampelt, weil sie sich mit anderen Leuten, anderen Hexagons nicht einließen. Niemand half ihnen. Jetzt sind sie Pragmatiker geworden, darauf kannst du dich verlassen. Und sie haben auch an ihrer Zauberei gearbeitet. Ich glaube, wir geraten in Schwierigkeiten, wenn wir hier das Erwartete tun. Ich brauche viel mehr Aufklärung — und gleich danach eine Stabsbesprechung.«