Als ich mich bis auf zwei Meter herangepirscht habe, dreht sich der Mann pl?tzlich in meine Richtung. Jetzt kann ich erkennen, was er in der Hand h?lt: Es ist ein Gewehr. Wie peinlich, das h?tte ich doch schon am Knall erkennen m?ssen! Also wirklich - als Nachfahre ber?hmter Jagdhunde darf mir das eigentlich nicht passieren. Sinn und Zweck dieser ganzen ?bung ist mir allerdings immer noch unklar, denn wie ein J?ger sieht der Mann nicht aus: Er ist ganz schwarz angezogen, zudem kann man sein Gesicht nicht erkennen, weil er auch eine schwarze M?tze tr?gt, die vom Scheitel bis zum Hals reicht und nur einen Schlitz f?r die Augen freil?sst. Sehr seltsam.
Ich bin so abgelenkt von diesem interessanten Szenario, dass ich nicht merke, wie neben mir ein Mann ebenfalls nach vorne robbt. Erst als er aufspringt und sich direkt auf den Mann mit der schwarzen M?tze st?rzt, bekomme ich davon etwas mit. Die beiden rangeln miteinander und gehen schliesslich zu Boden, dort k?mpfen sie weiter. Unglaublich! Hier passiert ja in f?nf Minuten mehr als in Carolins Werkstatt in zwei Wochen. Der Mann ohne M?tze bem?ht sich ganz offensichtlich, an das Gewehr zu kommen, w?hrend sich der M?tzentr?ger nach Kr?ften wehrt. Die beiden kugeln hin und her, so verkeilt ineinander, dass man kaum sagen kann, zu wem die jeweiligen Arme und Beine geh?ren. Dann gibt es pl?tzlich wieder einen lauten Knall - offensichtlich hat sich ein Schuss gel?st. Der Mann ohne M?tze rollt laut st?hnend zur Seite, der andere steht auf und sch?ttelt sich. Dann nimmt er das Gewehr, das mittlerweile auf dem Boden liegt, geht damit auf seinen Angreifer zu und - zielt!
Ich weiss sofort, was das bedeutet: ein Fangschuss. Die M?tze will den anderen Mann t?ten! Nein!, will ich laut rufen. Das ist doch ein Mensch und kein Kaninchen! Mir wird heiss und kalt. Und dann, ohne weiter zu ?berlegen, gehe ich aus der Deckung und springe den Mann mit der M?tze an. Es ist fast, als w?rde ich mich dabei selbst beobachten, so unwirklich ist das alles: Ich springe hoch und verbeisse mich im Hosenbein des Mannes, ehe er noch abdr?cken kann. Der schwarze Stoff der Hose ist nicht besonders fest, ich sp?re sofort, wie er reisst. Und dann h?nge ich mit meinen Z?hnen auch schon im Bein. Der Mann zuckt heftig zur?ck, br?llt vor Schmerz und reisst sein Bein hoch. Ich lasse los und falle vor ihn hin. Er zieht sich die M?tze vom Kopf und starrt mich b?se an.
»Was zum Teufel soll das? Kann mir jemand erkl?ren, wo dieser Hund auf einmal herkommt?«
Pl?tzlich laufen von ?berall her Menschen auf uns zu, das Kommando, auf dem Boden zu liegen, scheint aufgehoben. Aber die gr?sste ?berraschung: Der angeschossene Mann, der sich eben noch in Qualen auf dem Boden wand, hat sich auf einmal aufgesetzt und schaut mitf?hlend zu seinem Peiniger auf.
»Scheisse, Jens, tut’s weh?«
»Und ob!« Der von mir Gebissene schiebt sein Hosenbein hoch, auf seiner Wade ist ein wundersch?ner Gebissabdruck von mir zu bewundern. »Helen! Ich glaube, ich brauche ein Coolpad oder so was.«
Eine junge Frau mit blonden Haaren kommt hinter einer der S?ulen hervor und aus einer Gruppe von Leuten l?st sich ein ?lterer Mann mit silbernen Locken, der eine gewisse ?hnlichkeit mit dem alten Eschersbach hat. Die junge Frau kniet sich vor den Mann namens Jens und betrachtet den Biss, der ?ltere Herr dreht sich zu den anderen Menschen um.
»So, raus mit der Sprache: Wer hat den Hund mit ans Set gebracht?«
Schweigen.
»Wer?«, wiederholt Silberlocke.
Ich w?rde am liebsten abhauen, denn mein Gef?hl sagt mir, dass Silberlocke echt sauer ist und Carolin gleich ziemlichen ?rger bekommen wird. Warum, ist mir immer noch unklar, denn schliesslich habe ich ein Verbrechen verhindert. Aber das scheint hier keinen zu interessieren - alle tun so, als ob es die normalste Sache der Welt w?re, ein Gewehr auf seine Mitmenschen zu richten. Aber bevor ich noch dar?ber nachdenken kann, ob ich mich irgendwie geschickt aus der Angelegenheit herauslavieren kann, h?re ich schon Carolins Stimme: »Ich war das. Ich habe den Hund mitgebracht.«
Jetzt sehe ich sie endlich, sie steht auch neben einer der S?ulen auf der linken Seite.
»Es tut mir leid, ich habe nicht gemerkt, dass Herkules weggelaufen ist. Ich dachte, er steht immer noch neben mir und …«
Sie will noch irgendetwas erkl?ren, aber da br?llt der Mann schon los: »Sind Sie wahnsinnig? Wissen Sie, wie teuer dieser ganze Dreh ist? Jede Stunde, die wir h?ngen, kostet bares Geld! Und dann bringen Sie hier Ihren ungezogenen Dackel mit. Ich hoffe, er hat Jens nicht wirklich verletzt - ohne ihn k?nnen wir die Produktion vergessen, er ist unser Hauptdarsteller!« Er schnaubt noch einmal, dann holt er tief Luft und spricht in etwas ruhigerem Ton weiter. »Wer sind Sie eigentlich?«
Carolin ist mittlerweile ganz blass um die Nase geworden und fl?stert fast, als sie antwortet: »Neumann mein Name. Ich habe den Cellokasten f?r das Gewehr geliefert. Das mit Herkules tut mir echt leid. Er dachte wohl, das sei ein echter Bankraub und wollte den Herrn da dr?ben besch?tzen.«
Genau! Ich bin nicht ungezogen. Ich bin nur hilfsbereit -und ganz sch?n mutig!
Mittlerweile hat sich dieser Jens neben uns gestellt und mustert Carolin neugierig. Ohne die M?tze sieht er eindeutig besser aus. Er hat die f?r M?nnerverh?ltnisse anscheinend so wichtigen blauen Augen, seine Haare sind ganz dunkel und wild verstrubbelt. Letzteres kann nat?rlich auch an der M?tze liegen.
»Lass mal gut sein, Roland. Ich bin okay, der Kleine hat zwar ziemlich zugeschnappt, aber ich glaube, ich komme durch.« Bei diesen Worten zwinkert er Carolin zu, die tats?chlich zur?ckl?chelt. Dann beugt er sich zu mir. »Na, hast gedacht, dass ich hier wirklich eine Bank ?berfalle? Undwolltest dem Uwe helfen? Braver Hund.«
Eine Bank?berfallen? Was zum Teufel ist das? Und warum sind Jens und Uwe offensichtlich Freunde? Eben wollten sie sich doch gegenseitig noch ganz schwer ans Leder. In meinem Kopf macht sich eine sehr grosse Verwirrung breit.
Da soll man als Hund noch durchsteigen. Silberlocke scheint jedenfalls auch genug von dem ganzen Gerede zu haben. Er klatscht kurz und energisch in die H?nde.
»So, Kinder. Damit hier mal wieder Ruhe reinkommt, halbe Stunde Pause. Jens, leg mal einen Moment das Bein hoch. Die Komparsen bitte in zwanzig Minuten wieder auf Position. Und ich trinke jetzt zur Beruhigung mal einen sch?nen Yogi-Tee.« Dann guckt er mich noch mal an. »Und der Hund verschwindet hier ganz schnell.«
Carolin nickt und b?ckt sich, um mich wieder anzuleinen. »So, bevor du noch mehr Chaos stiftest, gehen wir lieber schnell.«
Ich bin beleidigt. Schliesslich weiss ich immer noch nicht, was genau ich falsch gemacht haben soll. Aber weil es mir nat?rlich auch sehr unangenehm ist, f?r so viel ?rger bei Carolin gesorgt zu haben, trotte ich gleich brav neben ihr her.
Sie wendet sich noch einmal kurz an Jens.»Es tut mir furchtbar leid, und ich hoffe, Sie haben keine grossen Schmerzen. Wenn ich irgendetwas f?r Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen. Mir ist die ganze Sache sehr peinlich.«
»Halb so schlimm, Frau Neumann. Mit einer Sache w?rden Sie mir allerdings eine grosse Freude machen und meine Schmerzen erheblich lindern.«
Auweia, wahrscheinlich kommt jetzt so etwas wie»Bringen Sie das freche Vieh ins Tierheim«.
Jens w?hlt kurz in seiner Hosentasche, dann dr?ckt er Carolin einen Zettel in die Hand. »W?rden Sie bitte mit mir essen gehen? Da steht meine Telefonnummer drauf. Ich warte auf Ihren Anruf.«
»Wahnsinn! Jens Uhland! Jens UHLAND! Deutschlands angesagtester Nachwuchsschauspieler will mit dir essen gehen! Ich fasse es nicht! Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn!«
Nina ist tats?chlich v?llig aus dem H?uschen. Der Typ mit der M?tze scheint irgendwie wichtig zu sein. Seitdem ihr Carolin beim Mittagessen erz?hlt hat, was heute Morgen passiert ist, hat Nina kein einziges Mal richtig Luft geholt. Stattdessen redet sie fast ununterbrochen. Bei Menschen, speziell Frauen, laut Herrn Beck ein todsicheres Zeichen grosser Aufregung. Warum Nina aber so aufgeregt ist, verstehe ich nicht. Eigentlich ist doch nichts Grossartiges passiert. Jens hat keine bleibenden Sch?den davongetragen, Silberlocke hat auch aufgeh?rt zu schimpfen, und schliesslich sind wir wohlbehalten, wenn auch ohne unseren Cellokasten, wieder zu Hause angekommen. Unklar ist mir nach wie vor allerdings, was der ganze Zauber mit dem Gewehr und dem Schuss sollte. Jens hatte den anderen Mann doch ganz klar angeschossen - aber wieso sprang der sp?ter trotzdem herum wie ein jungesReh? Die Erkl?rung von Carolin habe ich auch nicht verstanden: Film, Set, Dreharbeiten? Was bedeutet das bloss? Nina hingegen scheint sich nur f?r eins zu interessieren: n?mlich f?r besagten Jens. Furchtbar, diese Frau.