»He, Sie! Haben Sie da etwa gerade meinen Hund in einen Karton gesteckt?«
Durch die Pappe klingt Carolins Stimme ganz dumpf, trotzdem erkenne ich sie nat?rlich sofort. Der Deckel wird wieder aufgeklappt, Carolins Gesicht erscheint am oberen Rand, mit ihren grossen, hellen Augen schaut sie mich mitleidig an.
»Du Armer! Kein Wunder, dass du weinst! Ganz allein in diesem dunklen, engen Karton!«
Sie hebt mich heraus und streichelt mir?ber den Kopf.
»Alles wieder gut, Herkules. Und Sie merken sich mal eines«, faucht sie den Mann an, »Finger weg von meinem Hund, sonst gibt es gleich richtig ?rger!«
Der guckt sie so bl?d an, wie es tats?chlich nur Menschen k?nnen. Nat?rlich – wenn denkende Wesen dem Stumpfsinn anheimfallen, ist es eben viel dramatischer, als wenn beispielsweise ein Goldfisch komplett unterbelichtet ist.
»Is ja gut, is ja gut – ich wollte dem Kleinen doch nichts tun. Nur ein bisschen mit ihm spielen!«
Aha, der wollte nur spielen. Unter Hundebesitzern ja angeblich eine beliebte Ausrede f?r verzogene Vierbeiner. Dass jetzt schon Zweibeiner darauf zur?ckgreifen, sagt so einiges ?ber den Zustand aus, in dem sich die Menschheit befindet. Carolin setzt mich wieder auf den Boden, und ich ?berlege kurz, ob ich an dem Idioten mein Bein heben soll – verwerfe den Gedanken aber als niveaulos. Ein Carl-Leopold von Eschersbach pinkelt nicht aufs Parkett.
Der Mann verzieht sich, und Carolin kniet sich neben mich und streicht sich eine Str?hne ihres langen blonden Haares aus dem Gesicht.
»So, Herkules, den sind wir erst mal los. Aber vielleicht gehst du trotzdem wieder in den Garten? Nicht, dass dir gleich der N?chste auf die Pfoten tritt.«
Auf keinen Fall! Meine Mission lautet schliesslich K?hlschrank! Ich laufe also Richtung K?che. Dort angekommen, warte ich, bis Carolin mir gefolgt ist, setze mich auf meinen Po und gucke sie so treuherzig an, wie es mir als Dackel nur m?glich ist. Zur Unterstreichung meiner Bed?rftigkeit fiepe ich noch ein bisschen und hebe eine Vorderpfote. Carolin lacht.
»Aha, daher weht der Wind! Monsieur hat Hunger. Na gut, ein kleiner Snack ist wohl okay.« Sie ?ffnet die K?hlschrankt?r und nimmt ein Sch?lchen heraus. Hm, obwohl die Portion kalt ist, breitet sich ein verf?hrerischer Geruch in der K?che aus. Lecker! Herz!
»Also, die Mikrowelle ist schon verpackt, die T?pfe auch. Frisst du es auch kalt?«
Klaro! Immer her damit! Sie stellt mir das Sch?lchen vor die F?sse, und ich mache mich gleich dar?ber her.
»Ach, hier steckst du!« Marc steckt seinen Kopf durch die K?chent?r. Carolin dreht sich zu ihm herum und strahlt ihn an.
»Herkules hatte ein bisschen Hunger, und den K?hlschrank muss ich sowieso noch ausr?umen. Hast du auch Appetit auf irgendetwas?«
Marc stellt sich neben sie.
»Hm, lass mal ?berlegen. Ja, es gibt tats?chlich etwas, worauf ich richtig Appetit habe.« Blitzschnell packt er Carolin, zieht sie in seine Arme und gibt ihr einen langen Kuss. Mir wird ganz warm und wohlig. Von wegen »kein Happy End« – die beiden sind gl?cklich miteinander, das sieht ein Blinder mit Kr?ckstock. Selbst, wenn er ein Kater ist.
Carolin kichert und strampelt sich los.
»He, so werden wir hier nicht fertig! Also, m?chtest du nun noch einen Joghurt oder vielleicht ein St?ck Salami?«
Marc sch?ttelt den Kopf.
»Nein, danke! Ich wollte eigentlich nur schauen, wie weit ihr hier seid. Meinst du, ihr schafft den Rest in einer halben Stunde? Oder brauchen die Jungs noch l?nger? Denn dann w?rde ich jetzt schon mal Luisa von der Schule abholen. Sie war heute Morgen ziemlich aufgeregt, ich habe ihr versprochen, dass sie heute nicht in den Hort zu gehen braucht.«
Carolin nickt.
»Ja, das ist eine gute Idee, mach mal. Wenn sie auch nur ansatzweise so aufgeregt ist wie ich, braucht sie bestimmt ein bisschen v?terlichen Beistand. Und ich glaube, wir kommen in der n?chsten Stunde auch ohne dich aus.«
»Alles klar, dann d?se ich mal los.« Er dreht sich, um zu gehen, ?berlegt es sich dann aber anders und nimmt Carolin wieder in den Arm.
»Glaub mir, ich bin auch verdammt aufgeregt. Aber auch verdammt gl?cklich.« Dann k?sst er sie noch einmal und verschwindet aus der K?che. Carolin schaut ihm eine ganze Weile versonnen hinterher, dann sch?ttelt sie kurz den Kopf.
»So, Herkules. Genug getr?umt! Wenn wir in einer Stunde fertig sein wollen, gibt es noch einiges zu tun.« Sie ?ffnet wieder die K?hlschrankt?r und beginnt, diverse Flaschen und Schalen herauszur?umen. Einige verstaut sie in einem Karton, der neben ihr auf dem Boden steht, andere wirft sie in den grossen M?llsack neben der K?chent?r.
Gut, etwas zu fressen scheint es also nicht mehr zu geben, dann kann ich eigentlich auch wieder in den Garten. Menschen beim Aufr?umen zuzusehen ist nicht wirklich interessant.
Unten angekommen, halte ich kurz Ausschau nach Herrn Beck, sehe ihn aber nirgends. Daf?r komme ich an Marc vorbei, der offenbar noch nicht losgefahren ist, sondern zwei M?belpackern irgendwelche Anweisungen gibt. Als er mich sieht, beugt er sich zu mir herunter.
»Sag mal, Herkules, hast du vielleicht Lust mitzukommen, wenn ich Luisa abhole? Ich glaube, sie w?rde sich freuen, dich zu sehen.«
Ich wedele mit dem Schwanz– nat?rlich habe ich dazu Lust! Luisa ist ein wirklich nettes M?dchen, und seitdem Carolin und ich so viel Zeit bei Marc verbringen, habe ich seine Tochter schon richtig ins Herz geschlossen. Schliesslich hat sie auch noch Lust, mit mir spazieren zu gehen, wenn alle anderen Menschen l?ngst streiken.
»Gut, Kumpel, dann mal ab ins Auto, die Schule ist gleich aus.«
Kurze Zeit sp?ter h?lt Marc vor einem grossen Geb?ude, das wie ein riesiger Schuhkarton mit Fenstern aussieht. Nein, eigentlich eher wie vier riesige Schuhkartons, von denen man zwei aufeinandergestapelt und die beiden anderen links und rechts davon platziert hat. Marc steigt aus und ?ffnet mir die T?r, ich h?pfe direkt auf den B?rgersteig. Wir laufen los und kommen auf eine grosse Wiese, die direkt vor dem Schuhkarton-Haus liegt. Ein paar Kinder spielen hier mit einem Ball, die Sonne scheint, eine Mutter sitzt mit ihrem Baby auf dem Arm auf einer Bank. Ein friedliches Bild. Das Leben mit Kindern muss einfach sch?n sein.
Keine drei Sekunden sp?ter ist es mit der Ruhe vorbei. Erst ert?nt eine Klingel, und dann bricht ein wahrer H?llenl?rm los: Durch die gl?serne Eingangst?r des Hauses kann ich sehen, wie Kinder geradezu rudelweise auf den Flur st?rzen und sich ihren Weg Richtung Ausgang bahnen. Die Glast?r schwingt auf, die Kinder schubsen und dr?ngeln nach draussen, sie lachen und singen – und das alles in einer ohrenbet?ubenden Lautst?rke.
Das ist nun wirklich?berhaupt nicht mein Fall, Dackelohren sind schliesslich sehr empfindlich. Aber gerade, als ich ?berlege, schon mal allein zum Auto zur?ckzulaufen, kommt Luisa aus dem Geb?ude. Sie sieht uns sofort und kommt her?bergelaufen.
»Papa! Herkules!« Marc bekommt einen schnellen Kuss, dann beugt sich Luisa sofort zu mir herunter und krault mich unter der Schnauze.
»Herkules, mein S?sser! Das ist aber lieb, dass du mich abholst. Seid ihr denn schon fertig mit Packen?« Sie stellt sich wieder auf.
»Ich glaube, ein bisschen braucht Caro noch«, antwortet Marc, »aber heute Nachmittag sollte alles ?ber die B?hne sein.« Luisa nickt, und ihre dunklen, lockigen Z?pfe wippen lustig hin und her.
»Dann k?nnen wir doch schnell nach Hause fahren. Ich habe eine ?berraschung f?r Carolin gebastelt.«