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»Frau Serwe, ich sehe sie mir sofort an.«

Und ich komme mit! Ich lasse dich nicht allein, Cherie! Auf keinen Fall.

ZEHN

Ich hatte schon fast vergessen, wie sie riecht. Oder vielleicht hatte ich es auch verdr?ngt, um nicht st?ndig an sie zu denken. Und jetzt liegt sie hier, direkt vor mir, und als Frau Serwe die Autot?r noch ein bisschen weiter ?ffnet, werde ich von dem Geruch regelrecht ?berrollt. Sofort ist er wieder da, der Tag an der Alster – Cherie und ich auf dem Steg, ihr sp?ttisches Lachen, ihre Ber?hrungen, ihr federnder Gang. Mein Herz f?ngt an zu rasen, und ich muss mich kurz sch?tteln, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen.

Von der R?ckbank h?re ich ein leises Wimmern, es klingt kl?glich und auch ?ngstlich. Ich dr?nge mich noch weiter nach vorne, versuche, mit meinen Vorderl?ufen ins Wageninnere zu kommen. Das gelingt mir auch, und so reiche ich mit meiner Schnauze fast bis zum Polster der Bank. Von hier aus kann ich Cheries Kopf sehen. In ihr wundersch?nes blondes Haar hat sich Blut gemischt, das sich wie ein d?nnes Rinnsal vom Ohr bis zu ihrer Nasenspitze zieht.

Marc beugt sich nach vorne in den Wagen.

»Wie ist das passiert?«

»Ich wollte heute vor dem B?ro noch eine kurze Runde mit ihr drehen. Wir kommen aus der Haust?r – und werden fast von einem Fahrradkurier ?ber den Haufen gefahren. Der war auf dem B?rgersteig unterwegs und so schnell, dass sich Cherie wahnsinnig erschreckt hat. Ich mich ehrlich gesagt auch. Aber Cherie ist auf die Strasse gesprungen. Genau vor ein Auto. Die Fahrerin konnte nicht mehr bremsen und hat sie noch seitlich erwischt. Cherie ist richtig durch die Luft geflogen.« Claudia Serwe f?ngt wieder an zu weinen. »Ich dachte schon, sie sei tot.«

Marc legt seinen Kopf auf Cheries Brustkorb.

»Also, ihr Atem ist sehr flach, aber einigermassen regelm?ssig. « Er greift mit einer Hand an die Innenseite ihres Hinterlaufs und wartet einen Moment. »Hm, der Puls ist sehr schnell, sch?tze mal ungef?hr hundert Schl?ge pro Minute. Das ist viel f?r einen so grossen Hund, aber noch nicht dramatisch. Ich habe in der Praxis eine Trage, damit k?nnen wir Cherie in den Untersuchungsraum transportieren, ohne sie unn?tig zu bewegen. Bin gleich wieder da.«

Er zieht seinen Kopf aus dem Wagen und verschwindet ins Innere des Hauses. Claudia Serwe geht um das Auto herum und holt irgendetwas von ihrem Sitz. Ich nutze die Gelegenheit und h?pfe jetzt ganz ins Wageninnere. Vorsichtig lege ich meine Schnauze neben Cheries Kopf.

»Alles wird wieder gut, bestimmt! Marc ist ein toller Arzt, mach dir keine Sorgen.«

Cherie versucht den Kopf in meine Richtung zu drehen.»Wer bist du?«

»Herkules. Der Dackel, den du aus der Alster gerettet hast.«

Sie f?ngt an zu schnaufen, dann st?hnt sie.

»Werden die Schmerzen schlimmer?«, will ich besorgt wissen.

»Nein. Ich h?tte nur fast gelacht, und das tut weh.«

Also, wenn sie ihren Sinn f?r Humor noch hat, besteht Hoffnung. Ein gutes Zeichen!

»Dieser bl?de Radfahrer. Ich habe ihn echt nicht gesehen. Er war so schnell. Dann wollte ich zur Seite springen – und ab da kann ich mich an nichts mehr erinnern.«

»Du bist unter ein Auto gekommen. Aber dein Frauchen hat dich gleich zu Marc gefahren. Und der wird dich bestimmt schnell wieder auf die Beine bringen.«

»Dein Optimismus ehrt dich, Kleiner. Momentan f?hlt es sich nur leider nicht so an. So mitschnell auf die Beine bringen, meine ich.«

Marc kommt mit der Trage an, das heisst, er rollt an. Seine Trage hat n?mlich ausklappbare Beine mit Rollen, was sie nun entfernt wie einen Einkaufswagen aussehen l?sst.

»Herkules, tr?stest du unsere Patientin ein bisschen? Bist ein guter Hund, aber jetzt musst du mal zur Seite gehen, sonst kriege ich Cherie nicht auf die Trage gehoben.«

Er taucht Richtung R?ckbank, nimmt Cherie behutsam auf den Arm und legt sie dann auf die blanke Metallfl?che der Trage. Claudia Serwe stellt sich daneben und streichelt Cherie vorsichtig.

»Schh, schh, wird alles wieder gut, meine S?sse.«

Marc rollt die Trage Richtung Praxiseingang. Hier, auf dem B?rgersteig, stehen auch Carolin und Luisa. Obwohl ich selbst sehr aufgeregt bin, sehe ich, dass Luisa zittert.

»Papa, was ist denn mit dem armen Hund?«

»Er ist von einem Auto angefahren worden. Ich muss ihn untersuchen, um festzustellen, wie schwer seine Verletzungen sind.«

»Und wird er wieder ganz gesund werden?«

»Ich tue mein Bestes, Schatz.«

»Soll ich irgendwie helfen? Der Hund tut mir so leid.«

»Das ist ganz lieb, Luisa, aber am meisten hilfst du mir, wenn du jetzt zur Schule gehst. Zu viele aufgeregte Menschen sind auch nicht gut f?r unsere tierische Patientin.«

Luisa nickt und setzt den Schulranzen auf, der schon neben ihr steht. Marc wendet sich an Carolin.

»Sag mal, ist Frau Warnke denn noch nicht da? Es ist doch bestimmt schon nach acht Uhr, oder?«

Carolin nickt.

»Ja, gleich Viertel nach.«

»Mist. Wo bleibt die denn? Sie m?sste l?ngst da sein. Sie soll mir jetzt assistieren, und gleich beginnt auch die normale Sprechstunde.«

»Kann ich dir vielleicht helfen?«

Marc?berlegt kurz. »Ja, wenn es dir nichts ausmacht, w?re das gut.«

Im Behandlungsraum rollt Marc ein kleines Schr?nkchen neben die Trage.

»So, Frau Serwe, ich mache jetzt einen Ultraschall von Cheries Brustraum und Unterbauch, um innere Verletzungen auszuschliessen. Dann versorge ich die Platzwunde am Kopf, die muss ich wahrscheinlich n?hen. Meine Frau wird mir dabei assistieren. W?ren Sie so freundlich und w?rden so lange im Wartezimmer Platz nehmen?«

Frau Serwe nickt.»Ja, sicher. Aber sagen Sie mir gleich Bescheid, wenn Sie etwas klarer sehen?«

»Nat?rlich.«

»Soll ich den Dackel mitnehmen?«

»Nein, der st?rt mich eigentlich nicht, und Ihren Hund scheint er eher zu beruhigen. Nach der Nummer an der Alster bilden die beiden ja offensichtlich so eine Art Schicksalsgemeinschaft.«

Er l?chelt schief, was Frau Serwe erwidert. Dann geht sie ins Wartezimmer. Marc zieht einen langen, dicken Stab aus dem Schr?nkchen.

»So, hier oben ist der Schallkopf«, erkl?rt er Carolin, »damit werde ich jetzt Brustkorb und Bauchraum schallen, damit wir uns die gute Cherie von innen mal genauer ansehen k?nnen.«

Unglaublich– mit diesem Stab kann sich Marc Cherie von innen anschauen? Hoffentlich muss er daf?r nicht ein Loch in sie bohren. Ich merke, dass mir unwohl wird. Nicht, dass Marc Cherie noch mehr weh tut – wo ich ihr doch versprochen habe, dass Marc ihr helfen wird. Als k?nne er meine Gedanken lesen, streichelt Marc Cherie einmal kurz ?ber den R?cken.

»Ganz ruhig, meine Liebe, das tut nicht weh. Carolin, bleib bitte oben beim Kopf stehen und halte sie am Halsband fest, falls sie aufspringen will. Ich kann ihr wegen der Kopfverletzung leider gerade keinen Maulkorb anlegen. Also sei ein bisschen vorsichtig.«

»Was h?ltst du denn davon, wenn wir Herkules neben sie setzen? Ich hatte auch den Eindruck, dass er sie beruhigt.«

Marc kratzt sich am Kopf.

»Hm, ja, warum nicht. Wir k?nnen es probieren, vielleicht funktioniert es.«

Er hebt mich nun ebenfalls auf die Trage, so dass ich direkt neben Cheries Kopf sitze, dann klappt er die T?ren des Schr?nkchens auf – zum Vorschein kommt ein Fernseher. Aha? Was passiert denn jetzt?

»Ich konzentriere mich vor allem auf Lunge, Milz und Leber. Bei Unf?llen mit Autos sind innere Verletzungen an diesen Organen leider h?ufig. Der Hund kann daran verbluten. Eigentlich m?sste ich Cherie f?r ein besseres Bild vorher rasieren, aber hier am Bauch ist ihr Fell etwas d?nner. Und wenn sich aus den ersten Bildern kein entsprechender Verdacht ergibt, w?rde ich ihr das gerne ersparen. So, ich trage erst ein wasserhaltiges Gel auf, damit die Schallwellen auch wirklich bis zu den Organen vordringen und nicht unterwegs verloren gehen. Vorsicht, Cherie, jetzt wird’s erst ein bisschen kalt am Bauch, und dann lege ich los.«