Frau Wagner schnappt h?rbar nach Luft. »Na ja, mein Junge. Man muss wissen, wie man seine Priorit?ten setzt. Nicht jede Frau stellt immer den Beruf an erste Stelle.«
Jetzt ist es an Marc, tief einzuatmen. Fast scheint es, als wolle er noch etwas sagen. Dann aber nimmt er nur die Akte, die ihm seine Mutter entgegenh?lt, und geht wieder ins Behandlungszimmer zur?ck.
Kurze Zeit sp?ter ist Lucys Problem anscheinend gel?st und Marc mit seiner Sprechstunde fertig.
»So, Herkules, dann wollen wir mal in deine alte Heimat starten. Hoffentlich klappt diese Ponygeschichte gleich. Ich k?nnte einen Erfolg bei Carolin momentan gut gebrauchen. Irgendwie l?uft es gerade nicht ganz rund bei uns, mein Freund.«
Es l?uft nicht rund? Bei Marc und Carolin? Was denn? Also, laufen tut doch sowieso nie jemand von den beiden. Marc springt in sein Auto, sobald er die Praxis verl?sst. Und Carolin f?hrt eigentlich immer Fahrrad. Wenigstens geht sie noch mit mir spazieren, in letzter Zeit absolviert sie dabei aber auch nur das absolute Pflichtprogramm. Also, dass es mit dem Laufen ein Problem gibt, ist eine Diagnose, die ich schon vor Monaten h?tte stellen k?nnen.
Wir verlassen das Haus, Marc verfrachtet mich– nat?rlich! – kurzerhand auf den Beifahrersitz seines Autos und f?hrt los. Es ist ziemlich viel Verkehr auf den Strassen. Als wir wieder einmal anhalten m?ssen, fasst Marc mit seiner rechten Hand kurz unter meinen Bauch.
»Also, mein Lieber, es tut mir leid, dir das so sagen zu m?ssen: Aber du hast eine ganz sch?ne Wampe bekommen. Meine Mutter kocht jetzt seit zwei Wochen f?r uns, und du hast schon mindestens ein Kilo zugenommen. Wenn das in dem Tempo weitergeht, k?nnen wir dich bald rollen. Ich glaube, ich muss mal dein Fressen rationieren. ?bergewicht ist gar nicht gesund, schon gar nicht f?r Hunde mit so einem langen R?cken.«
Ich starre Marc fassungslos an. Was f?llt dem ein? Ich bin doch nichtdick! Und falls ich tats?chlich ein klein wenig zugelegt haben sollte, dann eindeutig nur, weil ich in letzter Zeit zu wenig Auslauf habe. Marc nimmt die Hand zur?ck und legt sie wieder ans Steuer.
»Aber andererseits: Warum soll es dir besser gehen als mir? Mich m?stet sie ja auch. Ist eben meine Mutter. Ich hoffe nur, sie f?llt Caro noch nicht auf die Nerven. Vielleicht war meine Idee mit der Krankheitsvertretung doch nicht so gut.«
Dazu kann ich wenig sagen. Also, sagen kann ich nat?rlich sowieso nichts. Aber selbst wenn ich k?nnte – ich finde es sch?n, dass Frau Wagner nun da ist. Auch wenn ich ein klitzekleines bisschen zugenommen haben sollte. Und Luisa ist gl?cklich, ihre Oma so oft zu sehen. Denn die k?mmert sich nicht nur um die Praxis, sondern auch um Luisas Hausaufgaben. Vor dem Abendessen zeigt Luisa ihr jetzt immer ihre Schulhefte, und Oma Wagner sagt ihr, ob sie das richtig oder falsch gemacht hat. So lernen Menschenkinder lesen und schreiben. Ob ich das auch k?nnte? W?re bestimmt spannend. Ich w?rde mir ein Buch schnappen und diese Zeichen anstarren, und dann w?rden auch in meinem Kopf Bilder entstehen. Bei einem Buch ?ber die Jagd bestimmt welche von F?chsen und Kaninchen.
Das Auto wird langsamer, ich schaue aus dem Fenster. Wir haben die Stadt verlassen und fahren an einem W?ldchen vorbei. Marc biegt von der grossen Strasse ab, jetzt geht es direkt durch den Wald. Von hier oben aus dem Auto heraus ist es sehr schwer zu erkennen – aber ich glaube, dies ist bereits die Auffahrt zum Schloss! Aufgeregt h?pfe ich auf dem Sitz auf und ab.
»Da freust du dich, nicht? Aber bleib noch sitzen, wir halten ja gleich an.«
In diesem Moment taucht auch schon das Schloss auf. Es ist im Wesentlichen ein riesiges weisses Haus mit einem grossen Portal in der Mitte und zwei hohen T?rmen an der Stirnseite. Davor ein Schlossplatz mit einem Springbrunnen und dahinter ein riesiger Park. Marc parkt sein Auto auf dem Schlossplatz und l?sst mich heraus. Ich atme tief ein und geniesse den Geruch, der immer noch so viel von Heimat f?r mich hat. Klar, ich wohne jetzt schon mehr als mein halbes Leben bei Carolin, aber den Ort, an dem man seine Kindheit verbracht hat, vergisst man wohl nie.
Und er vergisst einen auch nicht: In diesem Moment kommt meine Schwester Charlotte auf mich zugeschossen. Sie wedelt wie wild mit dem Schwanz und kann nur m?hsam vor meinen Pfoten bremsen.
»Carl-Leopold! Das ist ja toll! Du bist es wirklich!« Sie schlabbert mir ?ber die Schnauze, dann setzt sie sich. »Immer, wenn der Tierarzt kommt, renne ich sofort zu seinem Auto in der Hoffnung, dich mal wiederzusehen. Schade, dass du so selten mitkommst.«
»Tja, ich bin ja meistens bei meinem Frauchen in der Werkstatt. Aber heute hat Marc selbst daran gedacht, dass er mich mitnehmen k?nnte. Er will irgendetwas ?ber eure Pferde und Ponys wissen.«
Charlotte schaut erstaunt.»Nanu? Ich glaube, die sind alle gesund. Ansonsten sind die ja sooo langweilig. Furchtbar dumme Tiere. G?nzlich uninteressant. Was will er denn mit denen?«
»Ich habe es auch nicht ganz verstanden. Aber Marc hat eine Tochter, Luisa, und die mag Ponys. Damit hat es irgendwas zu tun. Und mit ihren Freundinnen.«
»Aha. Menschenkinder und Ponys. Der Alte wird begeistert sein. Ich glaube, wenn es nach ihm ginge, w?ren die G?ule schon l?ngst abgeschafft. Aber die junge Gr?fin ist auch so ein Pferdenarr – und deswegen bleiben die Viecher. Sag mal, was ganz anderes«, Charlotte mustert mich, »hast du irgendwie zugenommen? Du siehst so … so … kr?ftig aus.«
Jetzt f?ngt die auch noch damit an!
»Vielleicht ein ganz kleines bisschen. Aber ich glaube eher nicht.« Ichhoffe eher nicht! Was wird sonst Cherie denken, wenn wir uns das n?chste Mal begegnen? Golden Retriever sind extrem sportliche Zeitgenossen, ich kann mir nicht vorstellen, dass ein kleiner, dicker Dackel bei ihr besonders gut ankommt. Ich versuche, mein B?uchlein einzuziehen und Charlotte besonders selbstbewusst anzustrahlen.
»Du hast nicht zugenommen? Okay, dann bilde ich es mir wohl ein. Ist ja auch kein Wunder – der Alte drillt hier alle Hunde auf schlanke Linie, ein St?ck Herz zu viel, und es gibt ?rger. Selbst hinter mir ist er her, obwohl ich doch Emilia geh?re und sowieso nicht zur Zucht tauge.«
Emilia ist die K?chin auf Schloss Eschersbach. Als der alte Schlossherr auf die glorreiche Idee verfiel, uns beide Mischlingskinder ins n?chste Tierheim zu verfrachten, beschloss Emilia, wenigstens eines von uns aufzunehmen. Warum ihre Wahl gerade auf Charlotte fiel, weiss ich nicht. Vielleicht Solidarit?t unter Frauen?
Mittlerweile steht auch der alte von Eschersbach neben uns und unterh?lt sich mit Marc. Ich kann mir nicht helfen, und auch, wenn ich l?ngst ein erwachsener Dackel bin: Vor dem Alten habe ich immer noch Angst. Neben Marc sieht er nicht einmal besonders imposant aus, f?r einen Menschen eher schmal und gebrechlich, aber sobald ich seine schnarrende Stimme h?re, werde ich ganz unruhig. Brrr, besser ich stromere ein wenig mit Charlotte herum.
»Weisst du«, schlage ich ihr deshalb vor, »ich w?rde furchtbar gerne Mama und Opili begr?ssen.«
»Tja, Opili, ?h – das weisst du ja noch gar nicht, aber …«
»Mama ist auch erst mal wichtiger!«, unterbreche ich sie.
»Klar, kein Problem. Komm mit. Mama d?rfte momentan zwar nicht die beste Laune haben, aber vielleicht heiterst du sie ja auf.« Charlotte trabt los, ich hinterher.
»Wieso ist Mama schlecht gelaunt? Was ist denn los?«
»Sie wird gerade getrimmt. Soll bestimmt wieder auf irgendeine Hundeschau. Sie hasst es, aber der Alte kann es einfach nicht lassen.«
»Hm.« Stimmt. Meine Mutter ist ein gefeierter Dackelchampion. Sie war sogar schon Bundessiegerin, ein riesiger Pokal in der Glasvitrine im Salon zeugt von diesem Triumph. F?r von Eschersbach ist dies neben dem Jagen sein liebstes Hobby. Macht auch Sinn, denn schliesslich z?chtet er Dackel, und da kommt ihm jeder Titel recht – Pr?miumnachwuchs ist teuer. Umso entsetzter muss er gewesen sein, als er feststellte, dass Mama ihr Herz ein einziges Mal nicht an einen Herrn mit den besten Dackelpapieren, sondern an den Terrier des benachbarten Jagdp?chters verschenkt hatte.