Warum macht sich Marc Sorgen? Wenn ich das richtig verstanden habe, kommt Daniel doch, um zu helfen.
»Zu Recht, mein Lieber, man muss die Konkurrenz immer im Auge behalten.«
Ach, Marc will Geigenbauer werden und Daniel dann Tierarzt? Versteh ich nicht.
»Also komme ich heute Abend besser mit?«
»Das h?ttest du wohl gerne. Nee, nee, wir trinken auf alte Zeiten, du w?rdest dich nur langweilen. Und ich habe so lange nichts mehr mit Daniel unternommen, ich freue mich schon auf ein Glas Wein mit ihm. Will mal h?ren, wie es ihm privat geht. Heute Nachmittag haben wir nur ?bers Gesch?ft gesprochen, morgen geht er ins Konzert, und ?bermorgen ist er schon wieder weg, also das passt schon.«
Marc seufzt.»Okay, ich lasse dich ziehen. Aber keine Dummheiten machen!«
Carolin rollt mit den Augen.»Werde mich gehorsamst um 22 Uhr zur?ckmelden.«
»Sp?testens! Sonst schicke ich die Feldj?ger los!«
Feldj?ger klingt spannend. Ich habe eine stille Passion f?r die Jagd. Alle meine Vorfahren waren grosse J?ger, und aus mir w?re bestimmt auch einer geworden. Wenn man mich nur liesse. Aber leider werde ich mehr und mehr zum Schossh?ndchen und spiele mit kleinen M?dchen, anstatt endlich einen ordentlichen Fuchsbau zu sprengen. Mein einziger Ausflug in einen Kaninchenbau ist schon sehr, sehr lange her und endete in einem v?lligen Desaster: Ich blieb stecken und musste von Willi gerettet werden, der beim Ausgraben meiner Wenigkeit etwas erlitt, was Marc sp?ter Herzinfarkt nannte. Seitdem habe ich mich an Kaninchen nicht mehr rangetraut, obwohl es doch immer mein Traum war, einmal mit Opili auf die Jagd zu gehen. Ach, Opili, nun werden wir niemals gemeinsam durch Wiesen streifen und F?hrte aufnehmen. Bei diesem Gedanken kann ich nicht anders. Ich fange an zu heulen.
»Schatz«, Carolin dreht sich zu Marc, »ich glaube, Herkules will nochmal raus. Ich muss mich jetzt aber schnell f?r mein Date mit Daniel fertig machen.«
Marc verzieht das Gesicht und meckert:»Na klasse – ich kriege den Hund aufs Auge gedr?ckt, damit du dich f?r deinen Galan noch sch?n machen kannst.«
Das klingt zwar unfreundlich, aber da Marc jetzt schon wieder lacht, denke ich mal, dass es sich bei der Beschwerde um die gef?rchtete menschliche Ironie gehandelt hat: Eine Sache sagen, die andere Sache meinen. Verr?ckt, oder?
»Papa, ich komm mit!« Luisa stellt den Karton auf den Wohnzimmertisch und l?uft zu uns. Eigentlich ist das hier ein Missverst?ndnis, denn ich muss gar nicht, aber bei so netter Begleitung gehe ich nat?rlich gerne noch ein bisschen Gassi. Marc schnappt sich meine Leine von der Garderobe und ?ffnet die Wohnungst?r.
»Guten Abend, Frau Serwe! Alles in Ordnung bei Ihnen und Cherie?«
Ich traue meinen Augen kaum– wir kommen aus der Haust?r, und das Erste, was ich sehe, ist tats?chlich Cherie. Und sie ist ganz offensichtlich nicht meiner bl?henden Phantasie entsprungen, denn sonst w?rde Marc wohl kaum ihr Frauchen begr?ssen.
»Ja, alles bestens, danke! Wir drehen nur gerade unsere t?gliche Abendrunde, und da wollte ich Ihnen schnell etwas vorbeibringen.« Claudia Serwe h?lt Marc eine Art umgekehrte Sch?ssel unter die Nase. Ich kann zwar nicht sehen, was sich darin befindet – aber es riecht grossartig! Spontan fange ich an zu sabbern und kann nicht umhin, M?nnchen zu machen. Cherie setzt sich und mustert mich.
»Hallo, Herkules, wie ich sehe, liebst du Sahnekuchen. Bist also ein ganz S?sser, was?« Wenn sie k?nnte, w?rde sie kichern, da bin ich mir ganz sicher. Wieso nur muss ich gerade in Gegenwart dieser Traumfrau immer unangenehm auffallen?
»Gr?ss dich, Cherie – ?h, ja, es roch gerade so gut, da wollte ich mal nachschauen, was das wohl sein k?nnte.«
»Kein Problem. Und mein Frauchen ist wirklich eine phantastische B?ckerin. Leider kriege ich fast nie etwas davon ab – Zucker soll ja so ungesund f?r Hunde sein. Aber wenn ich mal etwas stibitzt habe, war es immer sensationell.«
»Geht’s dir denn wieder gut?«, versuche ich schnell das Thema zu wechseln. Nicht, dass Cherie auch noch merkt, dass ich zugelegt habe.
»Tja, manchmal habe ich noch etwas Kopfschmerzen, und die Naht an meiner Braue juckt auch ab und zu. Aber eigentlich bin ich wieder ganz fit. Allerdings tr?ume ich ?fter von dem Unfall. Es hat mich doch ganz sch?n mitgenommen.«
Ich nicke.»Ja, das glaube ich. Habt ihr denn den Typen geschnappt, der schuld an der ganzen Sache ist?«
Cherie sch?ttelt den Kopf. »Nein, leider nicht. Und das macht mich auch ziemlich traurig. Denn zum einen w?rde ich den Kerl richtig gerne mal in den Allerwertesten beissen f?r die Schmerzen, die er mir angetan hat. Und zum anderen weiss ich, dass mein Frauchen sich schlecht f?hlt, weil sie die Tierarztrechnung nicht richtig bezahlen konnte. Deswegen hat sie auch die tolle Torte f?r dein Herrchen gebacken. Schwarzw?lder Kirsch. So heisst die. Die macht Claudia nur zu ganz besonderen Anl?ssen oder f?r ganz besondere Menschen.«
»Auf alle F?lle riecht sie sehr, sehr lecker! Aber wahrscheinlich bekomme ich davon sowieso nichts ab. Mal eine ganz andere Frage – geht ihr ?fter hier spazieren?« Das w?re nat?rlich toll, dann k?nnte ich doch in Zukunft jedes Mal nach dem Abendessen ein bisschen Tamtam machen und wenigstens Luisa zu einer Runde ?berreden. Und vielleicht, wer weiss, wenn mich Cherie erst mal besser kennt, vergisst sie auch, dass ich nicht mal halb so gross bin wie sie.
»Ja, manchmal kommen wir tats?chlich hier lang. Nicht gerade jeden Abend, aber ab und zu. Tags?ber gehen wir fast immer auf die Hundewiese an der Alster, abends machen wir dann oft eine Runde durch das Viertel. Warum?«
»Och, nur so.«
Bevor mich Cherie noch eingehender zu meinen Motiven befragen kann, will ihr Frauchen weitergehen und Marc die Torte nach drinnen bringen. Cherie verabschiedet sich mit einem m?tterlichenMach’s gut, Kleiner!. Wahrscheinlich ist das nicht gerade ein Zeichen daf?r, dass sie mich f?r wild und gef?hrlich h?lt und gerne mal nachts mit mir allein durch den Park stromern w?rde. Egal, ich werde meine Chance schon bekommen.
»Das war ja eine kurze Runde!«, wundert sich Marcs Mutter, als wir wieder in der Wohnung sind.
»Wir waren auch gar nicht im Park, denn vor dem Hauseingang haben wir eine Patientin von mir getroffen. Ihr Frauchen hatte diese Torte f?r mich gebacken. Ich habe das Tier vor drei Wochen operiert, nachdem es vom Auto angefahren wurde.«
Frau Wagner wirft einen Blick auf die Torte.»Hm, Schwarzw?lder Kirschtorte. Die sieht aber gut aus! Siehst du, das ist das Sch?ne an einer Praxis – die Dankbarkeit von Mensch und Tier.«
»Ja, Mutter, das ist wirklich sch?n. M?chtest du vielleicht ein St?ck? Gewissermassen als Nachtisch?«
»Gerne. Komm, ich decke kurz f?r uns in der K?che.«
»Gut, ich bringe Luisa ins Bett. Dann komme ich.«
Falls dieser Kuchen tats?chlich so lecker ist, wie er riecht, lohnt es sich bestimmt, wenn ich mich in diesem Fall an die Fersen von Oma hefte. Sie denkt doch eigentlich immer daran, dass auch Dackel Genussfreunde sind.
Ich scharwenzel also um ihre Beine und bem?he mich um einen m?glichst unwiderstehlichen Dackelblick. Leider schaut sie nicht nach unten, kann also davon nicht beeindruckt sein. Vielleicht ein bisschen Jaulen? Kann bestimmt nicht schaden.
»Herkules, ich weiss genau, was du willst. Ein St?ck von der Torte. Die sieht auch wirklich grossartig aus, aber Marc hat neulich schon mit mir geschimpft. Ich muss also ein bisschen strenger mit dir sein. Es gibt nichts.«
Och n?. Wie doof ist das denn? Ausserdem ist Marc gar nicht f?r meine Erziehung zust?ndig. Der hat genug mit Luisa zu tun. Soll er bei der streng sein. Caro h?tte bestimmt nichts dagegen. Ich jaule noch ein bisschen lauter.
»Hach, na gut! Aber dann musst du dich beeilen, damit uns Marc nicht erwischt. Hier.«
Sie stellt mir ein kleines Tellerchen mit Torte direkt vor die Nase, ich schlabbere sofort los. HERRLICH! Und so was kann Cheries Frauchen backen? K?nnen die mich nicht adoptieren? Sofort?