Ich würde am liebsten abhauen, denn mein Gefühl sagt mir, dass Silberlocke echt sauer ist und Carolin gleich ziemlichen Ärger bekommen wird. Warum, ist mir immer noch unklar, denn schließlich habe ich ein Verbrechen verhindert. Aber das scheint hier keinen zu interessieren - alle tun so, als ob es die normalste Sache der Welt wäre, ein Gewehr auf seine Mitmenschen zu richten. Aber bevor ich noch darüber nachdenken kann, ob ich mich irgendwie geschickt aus der Angelegenheit herauslavieren kann, höre ich schon Carolins Stimme: »Ich war das. Ich habe den Hund mitgebracht.«
Jetzt sehe ich sie endlich, sie steht auch neben einer der Säulen auf der linken Seite.
»Es tut mir leid, ich habe nicht gemerkt, dass Herkules weggelaufen ist. Ich dachte, er steht immer noch neben mir und ...«
Sie will noch irgendetwas erklären, aber da brüllt der Mann schon los: »Sind Sie wahnsinnig? Wissen Sie, wie teuer dieser ganze Dreh ist? Jede Stunde, die wir hängen, kostet bares Geld! Und dann bringen Sie hier Ihren ungezogenen Dackel mit. Ich hoffe, er hat Jens nicht wirklich verletzt - ohne ihn können wir die Produktion vergessen, er ist unser Hauptdarsteller!« Er schnaubt noch einmal, dann holt er tief Luft und spricht in etwas ruhigerem Ton weiter. »Wer sind Sie eigentlich?«
Carolin ist mittlerweile ganz blass um die Nase geworden und flüstert fast, als sie antwortet: »Neumann mein Name. Ich habe den Cellokasten für das Gewehr geliefert. Das mit Herkules tut mir echt leid. Er dachte wohl, das sei ein echter Bankraub und wollte den Herrn da drüben beschützen.«
Genau! Ich bin nicht ungezogen. Ich bin nur hilfsbereit -und ganz schön mutig!
Mittlerweile hat sich dieser Jens neben uns gestellt und mustert Carolin neugierig. Ohne die Mütze sieht er eindeutig besser aus. Er hat die für Männerverhältnisse anscheinend so wichtigen blauen Augen, seine Haare sind ganz dunkel und wild verstrubbelt. Letzteres kann natürlich auch an der Mütze liegen.
»Lass mal gut sein, Roland. Ich bin okay, der Kleine hat zwar ziemlich zugeschnappt, aber ich glaube, ich komme durch.« Bei diesen Worten zwinkert er Carolin zu, die tatsächlich zurücklächelt. Dann beugt er sich zu mir. »Na, hast gedacht, dass ich hier wirklich eine Bank überfalle? Und wolltest dem Uwe helfen? Braver Hund.«
Eine Bank überfallen? Was zum Teufel ist das? Und warum sind Jens und Uwe offensichtlich Freunde? Eben wollten sie sich doch gegenseitig noch ganz schwer ans Leder. In meinem Kopf macht sich eine sehr große Verwirrung breit.
Da soll man als Hund noch durchsteigen. Silberlocke scheint jedenfalls auch genug von dem ganzen Gerede zu haben. Er klatscht kurz und energisch in die Hände.
»So, Kinder. Damit hier mal wieder Ruhe reinkommt, halbe Stunde Pause. Jens, leg mal einen Moment das Bein hoch. Die Komparsen bitte in zwanzig Minuten wieder auf Position. Und ich trinke jetzt zur Beruhigung mal einen schönen Yogi-Tee.« Dann guckt er mich noch mal an. »Und der Hund verschwindet hier ganz schnell.«
Carolin nickt und bückt sich, um mich wieder anzuleinen. »So, bevor du noch mehr Chaos stiftest, gehen wir lieber schnell.«
Ich bin beleidigt. Schließlich weiß ich immer noch nicht, was genau ich falsch gemacht haben soll. Aber weil es mir natürlich auch sehr unangenehm ist, für so viel Ärger bei Carolin gesorgt zu haben, trotte ich gleich brav neben ihr her.
Sie wendet sich noch einmal kurz an Jens. »Es tut mir furchtbar leid, und ich hoffe, Sie haben keine großen Schmerzen. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen. Mir ist die ganze Sache sehr peinlich.«
»Halb so schlimm, Frau Neumann. Mit einer Sache würden Sie mir allerdings eine große Freude machen und meine Schmerzen erheblich lindern.«
Auweia, wahrscheinlich kommt jetzt so etwas wie »Bringen Sie das freche Vieh ins Tierheim«.
Jens wühlt kurz in seiner Hosentasche, dann drückt er Carolin einen Zettel in die Hand. »Würden Sie bitte mit mir essen gehen? Da steht meine Telefonnummer drauf. Ich warte auf Ihren Anruf.«
»Wahnsinn! Jens Uhland! Jens UHLAND! Deutschlands angesagtester Nachwuchsschauspieler will mit dir essen gehen! Ich fasse es nicht! Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn!«
Nina ist tatsächlich völlig aus dem Häuschen. Der Typ mit der Mütze scheint irgendwie wichtig zu sein. Seitdem ihr Carolin beim Mittagessen erzählt hat, was heute Morgen passiert ist, hat Nina kein einziges Mal richtig Luft geholt. Stattdessen redet sie fast ununterbrochen. Bei Menschen, speziell Frauen, laut Herrn Beck ein todsicheres Zeichen großer Aufregung. Warum Nina aber so aufgeregt ist, verstehe ich nicht. Eigentlich ist doch nichts Großartiges passiert. Jens hat keine bleibenden Schäden davongetragen, Silberlocke hat auch aufgehört zu schimpfen, und schließlich sind wir wohlbehalten, wenn auch ohne unseren Cellokasten, wieder zu Hause angekommen. Unklar ist mir nach wie vor allerdings, was der ganze Zauber mit dem Gewehr und dem Schuss sollte. Jens hatte den anderen Mann doch ganz klar angeschossen - aber wieso sprang der später trotzdem herum wie ein junges Reh? Die Erklärung von Carolin habe ich auch nicht verstanden: Film, Set, Dreharbeiten? Was bedeutet das bloß? Nina hingegen scheint sich nur für eins zu interessieren: nämlich für besagten Jens. Furchtbar, diese Frau.
»Und hast du ihn schon angerufen?«
»Quatsch - wann denn? Das ist doch gerade mal drei Stunden her.«
»Ach stimmt - aber du wirst ihn doch anrufen?« »Na ja, ich weiß nicht so recht.«
»Du weißt nicht so recht? Ich fasse es nicht - du bist jung, du bist Single: Was gibt es da noch zu überlegen?«
»Na ja, nur weil er ein respektabler C-Promi ist, muss er noch nicht gleich mein Typ sein. Sicher, ich fand ihn ganz süß, aber mehr auch nicht.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden. Und >ganz süß< ist wirklich die Untertreibung des Jahrhunderts. Jens Uhland ist ein richtiger Hammertyp. Sieht blendend aus, ist witzig. Und Charme scheint er auch zu haben.«
Carolin verdreht die Augen. »Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass ich momentan gar nicht nach einem neuen Freund suche?«
»Ne, das finde ich völlig abwegig. Aber selbst wenn - du musst ja nicht suchen, trotzdem kannst du doch zugreifen, wenn der Richtige vorbeikommt.«
Das ist ja alles höchstinteressant. Nina findet also tatsächlich, dass dieser Jens in die Kategorie »richtig« fällt. Warum, verstehe ich nicht. Ganz im Gegenteil - ich würde ihn eher in die Kategorie »bewaffneter Gewalttäter« stecken. Außer mir scheint das aber niemand bemerkt zu haben. Stattdessen gelte ich jetzt als gewaltbereiter Dackel. Und noch etwas anderes stört mich ganz gewaltig: Carolin soll sich keinen Freund suchen. Denn wir haben doch schon den idealen Kandidaten gefunden. Eben Daniel. Diese Nina geht mir langsam gewaltig auf den Zeiger: Erst stört sie das traute Tête-à-tête mit Daniel, und jetzt will sie Carolin noch den doofen Jens aufschwatzen. Unmöglich! Die soll sich lieber mal um ihr eigenes Liebesleben kümmern, da hat sie genug zu tun.
Ich beschließe, mich beim Projekt »Jens« querzustellen. Nun habe ich ihn schon gebissen, da werden wir sowieso keine engen Freunde mehr werden. Sollte er noch einmal aufkreuzen, werde ich ihn einfach anpinkeln. Und das ist wörtlich zu nehmen.
SECHZEHN
Wenn Frauen sehr lange vor ihrem Kleiderschrank stehen, immer wieder ein Teil herausnehmen, es sich an den Körper halten und dann vor den Spiegel gehen, um sich so zu betrachten, dann hat das aus Dackelsicht etwas enorm Komisches. Gut, ich weiß mittlerweile, dass sich Menschen je nach Anlass gewissermaßen ein anderes Fell zulegen - aber nach welchen Kriterien die Fellwahl erfolgt, ist mir immer noch rätselhaft. Warum gestern ein geblümtes Kleid und morgen eine schwarze Hose? Und apropos Kleid: Auch die Länge scheint hier eine entscheidende Rolle zu spielen. Denn gerade jetzt legt Carolin drei schwarze Kleider nebeneinander auf ihr Bett, die eigentlich völlig gleich aussehen. Nur, dass sie eben unterschiedlich lang sind. Schweigend betrachtet sie die Kleider, dann dreht sie sich zu mir um.