Mittlerweile sind Carolin und Wagner tatsächlich beim Thema Arbeit angelangt. Ich sag's ja: So langsam habe ich doch schon ein bisschen Ahnung von den Zweibeinern. Wagner jedenfalls ermüdet Carolin gerade mit einer detailverliebten Schilderung seines beruflichen Werdegangs:
»Und da war mir klar, dass ich doch lieber Tierarzt werden will. Also habe ich noch von Human- zu Veterinärmedizin gewechselt. Obwohl ich mir eigentlich geschworen hatte, niemals dasselbe zu machen wie mein Vater. Tja, und jetzt habe ich sogar seine Praxis übernommen und wohne, genau wie er damals, im gleichen Haus. Am Anfang war das schon ein seltsames Gefühl, aber mittlerweile kann ich sagen, dass es die beste Entscheidung meines Lebens war. Mein Beruf macht mich glücklich.«
Und, wen interessiert's? Mich jedenfalls nicht. Hoffentlich komplimentiert Carolin diesen aufgeblasenen Langweiler gleich hinaus. Gut, ich muss zugeben, dass ich an seiner Anwesenheit nicht ganz unschuldig bin, aber der wesentliche Zweck von Wagners Besuch ist nun erfüllt: Jens ist für diesen Abend erst mal verhindert, Wagner also mehr als überflüssig. Der soll schnell sein Glas austrinken und dann husch ins Körbchen. Also, im übertragenen Sinne. Bestimmt überlegt Carolin auch schon, wie sie ihn möglichst elegant aus der Wohnung bekommt.
»Das finde ich toll, dass du deiner inneren Stimme gefolgt bist. Das sollte man überhaupt viel öfter machen. Apropos öfter - noch ein Glas Wein?«
Da habe ich mich doch wohl verhört - noch mehr Wein? Aber anscheinend geht Wagner Carolin nicht ganz so auf die Nerven wie mir. Mit reiner Höflichkeit ist das jedenfalls nicht mehr zu erklären. Findet sie seine Geschichten etwa spannend?
Carolin füllt wieder beide Gläser, dann setzt sie sich neben Wagner. »Ich wohne auch über meiner Werkstatt. Nina meint immer, sie würde es nerven, wenn sie unter einem Dach wohnen und arbeiten würde, aber ich finde es ideal.«
Wagner nickt. »Ja, geht mir genauso. Wie bist du denn auf die Idee mit der Werkstatt gekommen? Ist ja nicht gerade ein Beruf wie jeder andere. Oder liegt das bei dir auch in der Familie?«
Carolin schüttelt den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Mein Vater ist Anwalt, meine Mutter Hausfrau. Aber ich wusste schon als Schülerin, dass ich Geigenbauerin werden will. Weißt du - ich liebe Musik, habe selbst viel Geige gespielt, und ich wollte etwas Handwerkliches machen. Dann habe ich ein Praktikum in einer Geigenbauwerkstatt gemacht und gemerkt: Das ist es!«
Carolin strahlt regelrecht, Wagner mustert sie. Ach was, er guckt sie an wie der Fuchs die Gans! Der wird doch wohl nicht auf die Idee kommen, sich hier an meine, respektive Daniels Carolin ranzumachen?
Er räuspert sich. »Da kommt mir eine Idee. Hättest du Lust, mit mir nächste Woche in ein Konzert zu gehen? Ich habe zwei Karten für die Musikhalle und noch keine Begleitung.«
Carolin zögert. Klar, ist ja nicht einfach, dem Retter ihres Hundes hier gleich mal eine klare Abfuhr zu erteilen. »Also, ich, äh ...«
Nun schon raus damit, Carolin! Wird Zeit, dass wir den Kerl loswerden. »Furchtbar gern!«
SIEBZEHN
»Junge, du kannst es nicht übers Knie brechen. Vergiss es.«
Okay, Zustimmung klingt anders. Aber so schnell lasse ich mich nicht entmutigen. Ich wäre schließlich nicht Carl-Leopold von Eschersbach, wenn mich der fade Einwand eines gealterten Katers gleich aus dem Konzept bringen würde. Wir sitzen wieder auf unserer Lieblingsstelle unter dem Baum, und ich habe Beck eben ein kurzes Update der Irrungen und Wirrungen der letzten drei Tage in Sachen Carolin und die Männer gegeben.
»Glaub mir, Herr Beck, da geht was! Du hast die beiden nicht gesehen - immerhin hat Daniel sie geküsst. Das muss doch etwas bedeuten.«
»Ja. Das bedeutet, dass Daniel in Carolin verliebt ist. Was nicht zwangsläufig heißt, sie auch in ihn. Sonst hätte sie ihn geküsst, und nicht umgekehrt.«
Langsam beginne ich, mich richtig über Beck zu ärgern. »Das ist nun wirklich Wortklauberei - was macht es schon für einen Unterschied, ob er sie küsst oder sie ihn. Das ist doch das Gleiche - sie haben eben einander geküsst.«
»Da merkt man, dass du keine Ahnung hast. Es ist ein RIESEN-Unterschied. Ich sag dir was: Daniel ist ein ganz armes Schwein. Schmachtet Carolin die ganze Zeit aus der Ferne an, aber wenn es zählt, dann kommt ihm sogar Nina in die Quere.«
»Das war nun wirklich Pech. Dafür konnte er nichts. Und deswegen müssen wir ihm helfen - er braucht einfach noch eine Chance, eine Gelegenheit, mit Carolin allein zu sein.«
»O Mann, kapier es doch mal, Herkules: Ein Typ, der auf einen fetten Kater und eine kurzbeinige Promenadenmischung angewiesen ist, um eine Frau klarzumachen, der ist ein hoffnungsloser Fall. Ein Verlierer. Eine Null. Das habe ich dir ja gleich gesagt.«
Ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt. Meine Stimme klingt ganz heiser, als ich Beck anfahre: »Das nimmst du sofort zurück! Sofort! Sonst bist du die längste Zeit mein Freund gewesen!«
»Gott, ja, tut mir leid. Ich entschuldige mich hiermit für die Promenadenmischung.«
»Das meine ich nicht.«
»Gut, für kurzbeinig entschuldige ich mich auch. Nun zufrieden?«
»Ich meine den Verlierer. Daniel ist kein hoffnungsloser Fall. Er ist ein sehr netter Mensch, der mir zufälligerweise einiges bedeutet. Er ist mein Freund.«
Herr Beck verdreht die Augen. »Also ihr Hunde immer mit diesem Mein-Freund-der-Mensch-Unsinn! Jetzt mal Klartext: Der Hund ist nicht der beste Freund des Menschen, und umgekehrt ist es genauso. Daniel ist ein Mensch. Und der beste Freund des Menschen ist der Mensch. Und nur weil der ein oder andere Mensch keinen anderen Menschen als Freund findet, heißt das noch lange nicht, dass er auf einmal mit einem Tier befreundet sein kann. Wann immer ein Mensch mit dir redet und dir lauter persönlichen Krempel erzählt, dann meint er nicht dich, sondern sich. Er führt Selbstgespräche, kapiert? Aber damit er sich dabei nicht so bescheuert und einsam vorkommt, führt er sie mit dir. Du bist in diesem Moment genau genommen so etwas wie dieser kleine Plastikkollege von dem doofen Wellensittich. Ein Ersatz. Mehr nicht. Also heul hier nicht rum von wegen Rede nicht so über meinen Freund Daniel - das ist einfach nur lächerlich.«
Wenn ich weinen könnte, jetzt wäre ein guter Moment dafür. Und wenn ich ein Freund der gewalttätigen Auseinandersetzung wäre, auch. Dass Herr Beck so gemein sein kann, hätte ich nicht gedacht. Aber eines ist mir klargeworden: Mag sein, dass sich Beck einiges Wissen über Menschen zusammengesammelt hat; richtig kennen tut er sie deswegen nicht. Natürlich kann ein Mensch ein Freund sein. Die Art, wie Daniel mit mir redet, hat nicht das Geringste mit dem Plastikvogel zu tun, an dem sich der bedauernswerte Wellensittich aus dem zweiten Stock jeden Tag abarbeitet. Daniel meint mich, nicht sich. Ich weiß es - ich spüre es. Gut, Menschen können ganz schön ätzend sein, man denke nur an Thomas. Aber gleichzeitig haben sie etwas, das sie für mich einzigartig macht. Und wertvoll. Sie haben Gefühl, Mitgefühl. Sie können sich mit anderen freuen und mit anderen traurig sein. Und wütend sein, wenn der Freund sich ärgert. Und sie können lieben. Und zwar auch einen kleinen Hund wie mich. Ich werde niemals Emilias Tränen vergessen, als mich von Eschersbach in den Karton setzte und sie wusste, dass sie mich nicht wiedersehen würde. Carolin ist mein Freund. Und Daniel ist mein Freund. Ich weiß es genau. Jetzt müssen die beiden nur noch ein Paar werden. Und dafür werde ich sorgen, ob mit oder ohne Beck. In diesem Fall wohl ohne. Und so drehe ich mich um und lasse Beck einfach sitzen.