»Generell hat er damit Recht. Eine Notlüge ist immer noch eine Lüge. Aber manchmal lügen Menschen eben auch, weil sie jemanden nicht verletzen wollen. Und das ist dann nicht ganz so böse. Es fällt eher in die Kategorie Beschönigung.«
Langsam schwirrt mir der Kopf. Lügen, Notlügen, Beschönigungen - wer soll da noch durchblicken.
»Aber wieso sollte Daniel gekränkt sein? Er hat doch selbst gesagt, dass sein Kuss wohl keine gute Idee gewesen ist. Er hat sogar gesagt, es sei nun völlig in Ordnung.«
Herr Beck schüttelt den Kopf. »Herkules, ich dachte, du hättest die Menschen mittlerweile schon besser kennengelernt. Hier geht es um eine Herzensangelegenheit. Kein Mensch gibt gerne zu, wenn es ihn hier ganz böse erwischt hat. Lieber tun sie so, als sei das alles kein Problem. Habe ich dir doch schon mal erklärt - der andere darf niemals wissen, wie sehr du ihn liebst. Das ist eine eiserne Regel. Sonst bist du geliefert.«
Ich fürchte, Herr Beck hat in diesem Punkt schon wieder Recht. Dass in der Liebe so ein Chaos bei den Menschen herrscht, wundert mich überhaupt nicht. Ihre Regeln sind einfach völlig absurd. Auf so einen Unsinn käme ein Hund niemals.
ACHTZEHN
Heute ist ein völlig langweiliger, unspektakulärer Tag. Herrlich! Ich liege in meiner Werkstattkiste herum, schaue ab und zu in den Garten und kehre dann zu einem Nickerchen wieder in besagte Kiste zurück. Das Einzige, was gerade zum vollkommenen Glück fehlt, ist ein schöner Napf randvoll mit Pansen oder Herz. Eine Weile überlege ich, ob ich das aufkommende Hungergefühl ignorieren soll - eigentlich bin ich zu faul, jetzt zu Carolin zu laufen und meine nächste Mahlzeit einzufordern. Aber schließlich grummelt mein Bauch so laut, dass ich auch nicht mehr vernünftig dösen kann. Ich rapple mich also auf, laufe zu Carolin, die an ihrem Schreibtisch sitzt, und stupse sie mit der Nase an.
»Zeit für dein Fresschen?« Carolin schaut auf ihre Uhr. »Aber ein bisschen musst du dich noch gedulden. Wir haben noch etwas vor.«
Och nö! Ich habe Hunger! Und zwar jetzt! Ich stupse Carolin noch mal an. Die lacht und krault mich am Hals.
»Wart's ab, Herkules. Wir werden gleich etwas unternehmen, was dir auch gefallen wird. Und dann gibt's auch etwas zu futtern.«
He! Ich will nichts unternehmen! Ich will jetzt meinen Pansen, und dann will ich weiter rumliegen. Gestern - da hätten wir doch gut etwas unternehmen können. Die ganze Zeit hatte ich so ein Bedürfnis nach frischer Luft, nach Kaninchenschnuppern und Fliegenfangen. Aber stattdessen konnte ich Carolin noch nicht einmal zu einem kleinen Spaziergang im Park loseisen, so beschäftigt war sie. Morgen ist Samstag, da habe ich mehr Zeit, versprochen. Als ob einen Hund das trösten könnte. Der Moment ist da, wenn der Moment da ist. Aber das verstehen Menschen einfach nicht.
Ich trotte wieder zurück zu meiner Kiste. Eben hatte ich noch so gute Laune, die ist schlagartig verflogen. Mit dem Kopf auf meinem Kuschelkissen brummle ich beleidigt vor mich hin. Immer machen wir, was Carolin will. Das ist so ungerecht. Mittlerweile hat sich das Gefühl in meinem Bauch von einem gesunden Appetit zu einem ausgewachsenen Löwenhunger gesteigert. Ich beginne ein bisschen zu fiepen. Carolin soll ruhig wissen, dass sie sich haarscharf an der Grenze zur Tierquälerei bewegt.
»Mach doch nicht so ein Theater!«, kommt es herzlos aus ihrem Zimmer. »Es geht ja gleich los. Wir müssen nur noch etwas aus der Wohnung holen und dann starten wir auch schon. Unser Chauffeur müsste in ungefähr dreißig Sekunden vor der Haustür stehen.«
Unser Chauffeur? Das klingt nun wieder spannend. Das Wort habe ich seit mehreren Monaten nicht mehr gehört, und es weckt gleich Erinnerungen an alte Zeiten. Denn selbstverständlich gab es auf Schloss Eschersbach auch einen Chauffeur. Der alte von Eschersbach setzte sich nämlich nur noch höchst ungern selbst ans Steuer. »Meine Augen sind einfach zu schlecht geworden, da wäre ich eine Gefahr für die Allgemeinheit«, pflegte er gerne zu erklären, wenn er darauf wartete, dass sein Wagen vorfuhr, um ihn zu einer Jagdgesellschaft zu bringen. Die meisten Mitmenschen dürften sich an dieser Stelle die Frage gestellt haben, ob es eigentlich eine gute Idee war, mit von Eschersbach auf die Jagd zu gehen. Meines Wissens ist allerdings nie etwas passiert, wahrscheinlich war die Nummer mit dem Chauffeur also nur eine aristokratische Form von Angeberei.
Es klingelt, und Carolin geht an meiner Kiste vorbei, um die Tür zu öffnen. Dort steht: Jens!
»Guten Morgen, Carolin. Guten Morgen, Herkules!«, werden wir von ihm begrüßt.
Ich muss zugeben, dass Jens ohne schwarze Mützenmaske und ohne Gewehr eigentlich sehr nett aussieht.
Er gibt Carolin links und rechts einen Kuss auf die Wangen. »Na, ihr zwei? Alles bereit für unser Picknick?«
»Klar, ich muss nur schnell den Korb von oben holen. Ich habe ein paar Sachen kalt gestellt, die packe ich noch ein.«
Sie hüpft die Treppe hoch, ich bleibe neben Jens sitzen.
»Na, biste wieder fit?«, will er von mir wissen. Ich schaue ihn neugierig an. »Und hat dir meine Wurst geschmeckt?«
Okay, laut Herrn Beck war die Nummer mit der Wurst reine Bestechung, aber da ich ein höflicher Dackel bin und die Wurst tatsächlich lecker war, wedele ich ein bisschen mit dem Schwanz. Dann kommt mir der Gedanke, dass, wo eine Wurst ist, wohlmöglich auch zwei Würste sein könnten, und ich wedele noch euphorischer.
»Wusste ich es doch, braver Hund!« Er beugt sich zu mir herunter und krault mich ein bisschen hinter den Ohren. In diesem Moment kommt Carolin mit einem gigantischen Korb die Treppe herunter.
»Das ist ja schön, dass ihr euch schon ein bisschen anfreundet. Euer letztes Treffen war schließlich nicht so harmonisch.«
Jens lacht. »Ich habe immer noch einen blauen Fleck an der Stelle, wo Herkules zugeschnappt hat. Aber Schwamm drüber, er wollte euch schließlich retten. Außerdem habe ich jetzt endlich wieder einen wirksamen Tetanusschutz. Es stellte sich heraus, dass meine letzte Impfung schon viel zu lange her ist. Hatte die Sache also etwas Gutes. Und mein kleines Präsent ist offensichtlich auch bestens angekommen.«
Carolin nickt. »Ja, Herkules hat ungefähr zwanzig Sekunden gebraucht, um die Wurst aufzufuttern. Hat ihm sehr gut geschmeckt.«
Auweia, wenn die hier noch weiter über Hundewurst reden, breche ich zusammen. Vor lauter Hunger ist mir mittlerweile schon ganz schwindelig. Hoffentlich dauert es nicht mehr so lange, bis ich etwas zu fressen bekomme. Wobei der Korb, den Carolin aus der Wohnung geholt hat, auch so riecht, als sei etwas sehr Leckeres darin. Unwillkürlich fange ich an zu sabbern.
»Dann können wir los, oder?«
»Jupp, abmarschbereit!«, ruft Carolin fröhlich und öffnet die Haustür. Jens marschiert an ihr vorbei und auf das Auto zu, das direkt vor dem Haus parkt.
»Bitte einsteigen!« Schwungvoll reißt er die Beifahrertüre auf.
»Komm, Herkules!«, ruft Carolin - doch ich zögere. Das Auto sieht irgendwie komisch aus. Irgendwie - gefährlich. Erst komme ich nicht drauf, was genau mich so stört. Aber als mich Carolin hochhebt, um mich in das Auto zu setzen, ist es unübersehbar. Das Auto: Es hat kein Dach!
Zwanzig Minuten später sind meine Bedenken, in etwas sehr Schnelles einzusteigen, aus dem man herausfallen könnte, verflogen. Ich sitze auf Carolins Schoß, halte die Nase in die herrliche Sommerluft, und meine Öhrchen wehen im Wind. Ein Traum! Jens und Carolin unterhalten sich gut gelaunt. Worüber, kann ich gar nicht genau sagen, denn es rauscht so in meinen Ohren, dass ich nicht besonders gut höre. Aber das ist auch egal. In diesem Moment habe ich das Gefühl zu fliegen, und das fühlt sich einfach großartig an. Die Bäume am Straßenrand rauschen nur so vorbei und verschwimmen dabei zu einer hellgrünen Hecke, der Himmel über uns ist blau und weit; ich könnte eigentlich stundenlang so weiterfahren. Eigentlich. Denn leider zwickt mich mein Bauch noch etwas, ich hoffe also, dass gleich der Moment gekommen ist, in dem Carolin den Korb mit Leckereien aus dem Kofferraum holt.