Er wollte sie nicht allein und schwankend im Dunkeln unter den Bäumen zurücklassen, also ging er wieder ein Stück mit ihr zum Haus zurück; keiner von ihnen sprach. Als er in die Straße einbog, hörte er sie wieder summen, so laut, daß es wie ein Aufschrei war. Aber es war nichts im Vergleich zu dem Tumult in seinem Inneren, die Wogen von Panik und Erbitterung und Ekel über diesen Nachtmarsch mit geschlossenen Augen, an dessen Ende sich Gott weiß wessen Leichen finden würden.
Er fuhr mit dem Personenzug nach Slough, wo Mendel ihn mit einem Mietwagen erwartete. Während sie langsam auf das orangefarbene Leuchten der Stadt zufuhren, hörte er sich das Ergebnis von Peter Guillams Nachforschungen an. Das Dienstbuch enthalte keine Einträge für die Nacht vom zehnten auf den elften April, sagte Mendel. Die Seiten seien mit einer Rasierklinge herausgetrennt worden. Auch die Listen der Portiers für die gleiche Nacht fehlten, desgleichen die Signallisten.
»Peter glaubt, es sei erst kürzlich geschehen. Auf die folgende Seite ist eine Anmerkung gekritzelt: >Alle Nachfragen an Chef von London Station.< Es ist Esterhases Handschrift und mit Freitag datiert.«
»Letzten Freitag?« fragte Smiley und fuhr so jäh herum, daß sein Sicherheitsgurt einen klagenden Laut von sich gab. »Das ist der Tag von Tarrs Ankunft in England.«
»Das alles sagt Peter«, erwiderte Mendel stoisch. Und schließlich, daß betreffs Lapin alias Iwlow, und Legationsrat Poljakow, beide von der Sowjetischen Botschaft in London, Toby Esterhases Aufklärerberichte nicht die geringste verdächtige Spur aufzeigten. Über beide Männer war eingehend ermittelt worden, beiden wurde der Persilschein ausgestellt: das strahlendste Weiß, das es je gab. Lapin war vor einem Jahr nach Moskau zurückbeordert worden.
Mendel hatte eine Mappe mit Guillams Fotos mitgebracht, die Ergebnisse seines Raubzugs in Brixton, alle entwickelt und auf Normalgröße gebracht. Beim Bahnhof Paddington stieg Smiley aus und Mendel reichte ihm die Mappe durch die Tür. »Soll ich wirklich nicht mitkommen?« fragte Mendel. »Vielen Dank. Es sind nur ein paar Schritte.«
»Ein Glück für Sie, daß der Tag vierundzwanzig Stunden hat, wie?«
»Ja, wirklich.«
»Manche Leute schlafen.«
»Gute Nacht.«
Mendel hielt die Mappe noch immer fest. »Kann sein, daß ich die Schule gefunden habe«, sagte er. »Heißt Thursgood, in der Nähe von Taunton. Er hat ein halbes Quartal irgendwo in Berkshire ausgeholfen und ist dann anscheinend nach Somerset getreckt. Soll einen Wohnwagen haben. Möchten Sie, daß ich's nachprüfe?«
»Wie wollen Sie das machen?«
»An seine Tür bollern. Ihm einen Staubsauger verkaufen, ihn gesellschaftlich kennenlernen.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Smiley plötzlich bekümmert. »Es sieht so aus, als sähe ich schon Gespenster. Entschuldigen Sie, das war unfreundlich von mir.«
»Der junge Guillam sieht auch schon Gespenster«, sagte Mendel mit Entschiedenheit. »Behauptet, er würde im ganzen Haus so komisch angesehen. Behauptet, da gehe was vor, und sie steckten alle drin. Hab' ihm gesagt, er soll einen Strammen kippen.«
»Ja«, sagte Smiley nach weiterem Nachdenken. »Ja, das ist das einzig Richtige. Jim ist ein Profi«, erläuterte er. »Ein Außenagent der alten Schule. Er ist gut, was immer sie ihm auch angetan haben.«
Camilla war spät zurückgekommen. Soviel Guillam wußte, war die Flötenstunde bei Sand um neun zu Ende, aber es war schon elf, als sie die Tür aufschloß. Er war entsprechend kurz angebunden mit ihr, er konnte nicht anders. Jetzt lag sie im Bett, das grauschwarze Haar über das Kissen gebreitet, und beobachtete ihn, während er am dunklen Fenster stand und auf den Platz hinausstarrte.
»Hast du gegessen?«
»Doktor Sand hat mir was gegeben.«
»Was?« Sand war Perser, hatte sie ihm erzählt. Keine Antwort. Träume vielleicht? Nußkroketten? Liebe? Im Bett rührte sie sich nie, außer um ihn zu umarmen. Im Schlaf atmete sie kaum; manchmal lag er wach, beobachtete sie und überlegte, wie ihm wohl zumute wäre, wenn sie tot wäre. »Hast du Sand gern?« fragte er. »Manchmal.«
» Gehst du mit ihm ins Bett ?«
»Manchmal.«
»Vielleicht solltest du mit ihm zusammenwohnen statt mit mir.«
»So ist es nicht«, sagte Camilla. »Das verstehst du nicht.« Nein, das verstand er nicht. Zuerst dieses Pärchen, das auf dem Rücksitz eines Rover seine Spiele trieb, dann ein einsamer Bubi mit Schlapphut, der seinen Sealyham spazierenführte, dann ein Mädchen, das ein stundenlanges Gespräch von der Telefonzelle vor seiner Haustür aus führte. Nichts von alledem mußte etwas bedeuten, nur daß sie alle hintereinander aufgezogen waren wie bei der Wachablösung. Jetzt hatte ein Lieferwagen geparkt, und niemand stieg aus. Noch ein Liebespaar oder eine Aufklärer-Nachtschicht? Der Lieferwagen hatte zehn Minuten dagestanden, als der Rover wegfuhr.
Camilla schlief. Er lag neben ihr wach und wartete auf morgen. Morgen wollte er auf Smileys Anweisung die Akte über den Fall Prideaux stehlen, auch bekannt als der Ellis-Skandal - oder für Eingeweihtere - Operation Testify.
Im Thursgood übernimmt Bill Roach das Steuer von Jim Prideaux' Wagen
Bis zu diesem Augenblick war dies der zweitglücklichste Tag in Bill Roachs kurzem Leben gewesen. Der glücklichste war kurz vor der Auflösung seines Elternhauses, als sein Vater unterm Dach ein Wespennest entdeckt und Bill als Hilfskraft beim Ausräuchern herangezogen hatte. Der Vater war kein Naturmensch, auch nicht sehr geschickt, aber nachdem Bill in seinem Lexikon alles über Wespen nachgelesen hatte, waren sie gemeinsam zur Drogerie gefahren und hatten Schwefel gekauft, den sie auf einer großen Platte unter der Dachrinne verbrannten und damit den Wespen den Garaus machten.
Der heutige Tag jedoch hatte die feierliche Eröffnung von Jim Prideaux' Automobil-Club-Rallye gesehen. Bisher hatten sie nur den Alvis auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, aber heute hatten sie zum Lohn und mit Latzys Hilfe eine Slalompiste mit Strohballen auf der steinigen Seite der Strecke angelegt, dann hatte reihum jeder sich ans Steuer gesetzt und war mit Jim als Stopper unter dem brausenden Jubel der Supporters durch die Tore gekeucht und gewedelt. »Bester Wagen, den England je gebaut hat«, hatte Jim sein Auto vorgestellt. »Wird heute nicht mehr hergestellt, von wegen Sozialismus.« Jetzt war der Alvis frisch lackiert, trug auf der Kühlerhaube einen Rallye-Union-Jack und war unbestritten der schönste und schnellste Wagen der Welt. Im ersten Durchgang hatte Roach den dritten Platz unter vierzehn Teilnehmern belegt, und jetzt, im zweiten, war er, ohne ein einziges Mal abzubremsen, beim Kastanienbaum angelangt und startbereit für die Endrunde. Eine Rekordzeit! Er hätte nie gedacht, daß ihm etwas so viel Spaß machen könnte. Er fand das Auto herrlich, und zum erstenmal in seinem Leben hätte er es herrlich gefunden, zu siegen. Er hörte, wie Jim brüllte: »Sachte, Jumbo«, und er sah Latzy auf und ab hüpfen und die improvisierte Zielfahne schwingen, aber als er um den Pfosten radierte, wußte er bereits, daß Jim nicht mehr auf ihn achtete, sondern über die Rennstrecke hinweg zu den Birken hinüberstarrte. »Sir, wie lange, Sir?« fragte er atemlos und hörte nur ein leises Psst!«
»Stopper!« rief Spikely und riskierte eine Lippe. »Die Zeit, bitte, Rhino.«
»War prima, Jumbo«, sagte Latzy und blickte ebenfalls auf Jim. Ausnahmsweise fanden weder Spikelys Frechheit noch Bills Flehen Beachtung. Jim starrte über das Spielfeld zum Fahrweg hinüber, der die östliche Grenze bildete. Neben ihm stand ein Junge namens Coleshaw, ein Repetierer aus III B, bekannt dafür, daß er den Lehrern um den Bart ging. Das Gelände war hier sehr flach, ehe es zu den Hügeln anstieg; nach ein paar Regentagen stand oft alles unter Wasser. Deshalb lief auch keine ordentliche Hecke am Fahrweg entlang, sondern nur ein Drahtzaun mit Holzpfosten; und es gab auch keine Bäume, nur den Drahtzaun, die Ebene und da und dort dahinter die Quantocks, die heute im alles beherrschenden Weiß verschwunden waren. Die Ebene hätte daher auch Sumpfland sein können, das zu einem See führte oder einfach in die weiße Unendlichkeit. Vor diesem farblosen Hintergrund wanderte eine einzelne Gestalt dahin, ein normaler, unauffälliger Fußgänger, ein Mann mit schmalem Gesicht, weichem Filzhut und grauem Regenmantel; er trug einen Spazierstock, den er kaum benutzte. Roach, der ihn gleichfalls beobachtete, kam zu dem Schluß, daß der Mann gern schneller gegangen wäre, aber aus einem bestimmten Grund den Schritt zügelte. »Hast du die Brille auf, Jumbo?« fragte Jim und starrte unverwandt auf diese Gestalt, die sich nun dem nächstgelegenen Pfosten näherte. »Ja, Sir.«