»Wer ist denn der? Sieht aus wie Salomon Grundy.«
»Weiß nicht, Sir.«
»Noch nie in der Gegend gesehen?«
»Nein, Sir.«
»Kein Lehrer, keiner aus dem Dorf. Also was ist er? Räuber? Dieb? Warum schaut er nicht zu uns herüber, Jumbo? Was paßt ihm nicht an uns? Würdest du nicht hinschauen, wenn du einen Haufen Jungens sehen würdest, die im Auto um ein Feld rasen? Mag er keine Autos? Mag er keine Jungens?« Roach überlegte noch immer eine Antwort auf alle diese Fragen, als Jim anfing, zu Latzy in der DP-Sprache zu reden. Sein tonloses Flüstern verriet Roach sofort, daß zwischen den beiden ein Einvernehmen bestand, ein besonderes fremdartiges Band. Der Eindruck wurde durch Latzys Antwort verstärkt, die mit der gleichen unerschütterlichen Zurückhaltung erteilt wurde und deutlich negativ war,
»Sir, bitte, Sir, ich glaube, er hat was mit der Kirche zu tun, Sir«, sagte Coleshaw. »Ich hab' ihn mit Wells Fargo sprechen sehen, Sir, nach der Andacht.«
Der Name des Vikars lautete Spargo, und er war sehr alt. Die Thursgood-Legende wollte, daß er in Wahrheit der große Wells Fargo sei, der sich hierher zurückgezogen hatte. Jim dachte eine Weile über diese Erklärung nach, und Roach war wütend und fand, Coleshaw wolle sich nur interessant machen.
»Gehört, worüber sie geredet haben, Coleshaw?«
»Sir, nein, Sir. Sie haben die Sitzordnung der Kirche studiert, Sir.
Aber ich könnte Wells Fargo fragen, Sir.«
»Unsere Sitzordnung? Die Sitzordnung von Thursgood?«
»Ja, Sir. Die Sitzordnung der Schule. Von Thursgood. Mit den ganzen Namen, Sir, und wo wir sitzen.«
Und auch wo die Lehrer sitzen, dachte Roach erbittert. »Wer ihn nochmals sieht, sagt mirs. Ihn oder sonstige trübe Figuren, verstanden?« Jim wandte sich an alle und lieferte dabei eine einfache Erklärung. »Hab' nichts übrig für komische Vögel, die sich um Schulen rumtreiben. An meiner letzten war's eine richtige Bande. Haben alles mitgehen lassen. Silber, Geld, Ambanduhren der Jungens, Radios, Gott weiß, was sie nicht geklaut haben. Er wird nächstens den Alvis klauen. Bester Wagen, den England je gebaut hat, und wird nicht mehr hergestellt. Haarfarbe, Jumbo?«
»Schwarz, Sir.«
»Größe, Coleshaw?«
»Sir, einsachtzig, Sir.«
»Für Coleshaw sieht jeder wie einsachtzig aus, Sir«, sagte ein Spaßvogel, denn Coleshaw war ein Zwerg und angeblich mit der Ginflasche aufgezogen.
»Alter, Spikely, du Knallfrosch?«
»Einundneunzig, Sir.«
Die Situation löste sich in Gelächter auf, Roach durfte den Durchgang wiederholen und schnitt schlecht ab, und in dieser Nacht lag er in qualvoller Eifersucht wach und fürchtete, der ganze Automobilclub, ganz zu schweigen von Latzy, könnte in Bausch und Bogen in den ehrenvollen Rang von Beobachtern erhoben worden sein. Es tröstete ihn kaum, daß er sich sagte, ihre Wachsamkeit könne sich nie und nimmer mit der seinen vergleichen; daß Jims Anweisung nur für diesen einen Tag Geltung habe; oder daß Roach von nun an seine Anstrengungen verdoppeln müsse, um dieser eindeutig näherrückenden Bedrohung zu begegnen. Der Fremde mit dem schmalen Gesicht war wieder verschwunden, aber anderntags stattete Jim dem Kirchhof einen seltenen Besuch ab; Roach sah ihn mit Wells Fargo sprechen, vor einem offenen Grab.
Von diesem Tag an stellte Bill Roach an Jim eine verschlossene Miene fest und eine Sprungbereitschaft, die manchmal wie Zorn hervortrat, wenn er allabendlich durch das Zwielicht stapfte oder vor dem Wohnwagen auf den Erdhocken saß, unempfindlich gegen Kälte oder Nässe, und seine dünne Zigarre rauchte und am Whisky nippte, während die Dunkelheit ihn einhüllte.
Zweiter Teil
Mrs. Pope Graham vom Hotel Islay kommt zu einem verdächtigen Gast, Inspektor Mendel zu einem billigen Babysitter
Das Hotel Islay in Sussex Gardens, wo George Smiley am Tag nach seinem Besuch in Ascot unter dem Namen Barraclough sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, war ein für diese Lage sehr ruhiges Haus und für Smileys Zwecke vorzüglich geeignet. Es stand in einer Reihe älterer Herrschaftshäuser knapp hundert Meter südlich von Paddington Station und war von der Hauptstraße durch eine Reihe gleichhoher Bäume und einen Parkplatz getrennt. Draußen dröhnte der Verkehr die ganze Nacht hindurch. Das Innere jedoch war trotz der Anhäufung scheußlicher Tapeten und kupferner Lampenschirme ein Hort der Stille. Nicht nur, daß sich im Hotel nichts regte: Auch in der Außenwelt regte sich nichts, und dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die Besitzerin, Mrs. Pope Graham, Majorswitwe, deren furchtbar schleppende Stimme Mr. Barraclough genau wie jedem anderen, der das gastliche Haus aufsuchte, ein Gefühl grenzenloser Müdigkeit vermittelte. Inspektor Mendel, dessen Informantin sie seit vielen Jahren war, behauptete, ihr Name sei schlicht Graham. Das Pope habe sie zwecks größerer Vornehmheit oder als Huldigung an Rom hinzugefügt. »Ihr Vater war nicht zufällig bei der Greenjacket-Brigade?« erkundigte sie sich gähnend, als sie den Namen Barraclough im Register las. Smiley zahlte ihr fünfzig Pfund Vorschuß für einen zweiwöchigen Aufenthalt und sie gab ihm Zimmer Nummer acht, weil er ungestört arbeiten wollte. Er bat um einen Schreibtisch, und sie gab ihm einen wackeligen Bridgetisch, Norman, der Hotelboy, schleppte ihn an. »Er ist georgianisch«, seufzte sie, als sie die Lieferung überwachte. »Sie werden ihn doch sorgsam behandeln, nicht wahr, mein Lieber? Eigentlich sollte ich ihn gar nicht ausleihen, er hat dem Major gehört.« Zu den fünfzig Pfund fügte Mendel privatim weitere zwanzig a conto aus seiner eigenen Brieftasche hinzu, Schmierlappen, wie er sagte, die er später wieder von Smiley kassierte. »Wo nichts ist, kann auch nichts stinken, wie?« meinte er.
»So könnte man sagen«, bestätigte Mrs. Pope Graham und barg die Scheine hoheitsvoll in ihren Dessous.
»Ich will jeden Dreck erfahren«, schärfte Mendel ihr ein, als sie in ihrer Souterrainwohnung bei einer Flasche ihrer Lieblingsmarke saßen. »Genaue Zeiten von Kommen und Gehen, Kontakte, Lebensweise und vor allem« — er hob einen mahnenden Finger - »vor allem, und das ist wichtiger, als Sie wissen können, müssen mir alle verdächtigen Personen gemeldet werden, die sich für ihn interessieren oder unter irgendeinem Vorwand Ihr Personal aushorchen wollen.« Er warf ihr seinen Lage-der-Nation-Blick zu. »Auch wenn sie behaupten, sie wären die Königliche Leibgarde und Sherlock Holmes in einer Person.«
»Wir sind allein hier, ich und Norman«, sagte Mrs. Pope Graham und wies auf einen fröstelnden Jungen in einem schwarzen Mantel, den Mrs. Pope Graham mit einem beigen Samtkragen herausgeputzt hatte. »Und bei Norman werden sie kein Glück haben, nicht wahr, Lieber, du bist viel zu taktvoll.«