Diese vorübergehende Ohnmacht trübte Controls Freude bei der Abfassung von Percy Allelines Eignungsgutachten für den Posten des Operationsleiters nicht im geringsten. Damit machte er Percy, wie er sagte »hofnarrenfähig«.
Smiley konnte nichts unternehmen. Bill Haydon war damals in Washington und versuchte, mit den, wie er es ausdrückte, faschistischen Puritanern der amerikanischen Dienststelle erneut über ein Informationsabkommen zu verhandeln. Aber Smiley war in die fünfte Etage aufgestiegen, und dort gehörte es zu seinen Aufgaben, Control alle Bittsteller vom Hals zu halten. Folglich hatte Alleline mit Smiley zu tun, sooft er kam und fragte: »Warum?« Suchte ihn in seinem Büro auf, wenn Control nicht da war, lud ihn in seine trübselige Wohnung ein, nachdem er seine Geliebte vorsorglich ins Kino geschickt hatte und fragte immer wieder in seinem klagenden Tonfalclass="underline" »Warum?« Einmal hatte er sogar eine Flasche Malzwhisky erstanden, den er Smiley nachgerade aufdrängte, während er selber der billigeren Sorte treu blieb.
»Was habe ich ihm denn so Furchtbares angetan, George? Wir haben uns ein paarmal gekabbelt, aber was ist daran so ungewöhnlich, können Sie mir das sagen? Warum hackt er auf mir herum? Ich will doch nichts als einen Platz am obersten Tisch. Gott weiß, daß meine Qualifikation mich dazu berechtigt.« Mit obersten Tisch meinte er die fünfte Etage. Die Kompetenzen, die Control ihm zugewiesen hatte und die auf den ersten Blick höchst eindrucksvoll wirkten, gaben Alleline das Recht, sämtliche Einsatzpläne zu überprüfen, ehe sie durchgeführt würden. Das Kleingedruckte machte dieses Recht von der Zustimmung der betroffenen Abteilungen abhängig, und Control sorgte dafür, daß es nicht so weit kam. Der Dienstvertrag verpflichtete ihn zur »Koordinierung von Quellen und Schlichtung regionaler Kompetenzstreitigkeiten«, eine Aufgabe, die Alleline später mit der Einrichtung von London Station erfüllt hat. Aber die für Quellen zuständigen Abteilungen, wie zum Beispiel die Aufklärer, die Fälscher, die Abhörer und die Funker, weigerten sich, ihm Einblick zu gewähren, und er hatte keine Möglichkeit, sie zu zwingen. Alleline darbte also, von Mittag an war sein Tisch leer.
»Ich bin mittelmäßig, das ist der Grund, wie? Heutzutage muß jeder ein Genie sein, eine Primadonna, kein Statist, und uralt obendrein.« Denn Alleline, obwohl man es bei ihm leicht vergaß, war für den obersten Tisch ein noch junger Mann. Einen Unterschied von acht und zehn Jahren konnte er gegen Haydon und Smiley ins Treffen führen, und gegen Control noch mehr. Control war unerbittlich: »Percy Alleline würde seine Mutter für einen Adelstitel verkaufen, und diese Dienststelle für einen Sitz im Oberhaus.« Und später, als die niederträchtige Krankheit ihn bereits befallen hatte: »Ich weigere mich, mein Lebenswerk einem Paradepferd zu hinterlassen. Ich bin zu eingebildet, um auf Schmeicheleien reinzufallen, zu alt, um ehrgeizig zu sein, und ich bin häßlich wie die Nacht. Percy ist in allem das Gegenteil, und in Whitehall gibt es genügend Tausendsassas, denen einer wie er mehr liegt als ich.«
Womit Control sich gewissermaßen selber den Fall Witchcraft auf Umwegen aufgehalst hatte.
»George, kommen Sie rein«, hatte Control eines Tages durch die Sprechanlage gebellt. »Bruder Percy will mir das Messer auf die Brust setzen. Kommen Sie rein, oder es gibt ein Blutbad.« Es war die Zeit, erinnerte sich Smiley, als ruhmlose Krieger aus aller Herren Länder zurückkehrten. Roy Bland war soeben aus Belgrad heimgeflogen, wo er mit Toby Esterhases Hilfe versucht hatte, die Reste eines sterbenden Agentennetzes zu retten; Paul Skordeno, zu jener Zeit Nr. 1 in Deutschland, hatte vor kurzem seinen besten sowjetischen Agenten in Ostberlin verloren, und Bill selber war nach einer weiteren erfolglosen Reise zurück in seinem Turmzimmer und wütete über die Pentagon-Arroganz, die Pentagon-Idioten, die Pentagon-Lumpen; und behauptete, die Zeit sei gekommen, »sich lieber mit den verdammten Russen zusammenzutun«.
Und im Hotel Islay war es nach Mitternacht, denn ein verspäteter Gast klingelte an der Tür. Wofür Norman ihm zehn Silberlinge abknöpfen wird, dachte Smiley. Mit einem Seufzer zog er den ersten Band der Witchcraft-Akten heran, leckte bedächtig Zeigefinger und Daumen der rechten Hand und ging daran, das amtliche Gedächtnis mit seinem eigenen zu verquicken.
»Wie besprochen«, schrieb Alleline nur ein paar Monate nach dieser Unterredung in einem leicht hysterischen persönlichen Brief an Anns einflußreichen Vetter, den Minister, der in Lacons Akte enthalten war.
»Die Witchcraft-Berichte kommen sämtlich aus einer Quelle, die unbedingt äußerste Behutsamkeit erfordert. Meiner Meinung nach wird keine der in Whitehall üblichen Verteilermethoden diesem Fall gerecht. Depeschenkoffer, wie wir sie für gadfly benutzten, erwiesen sich als ungeeignet, als Whitehall-Konsumenten die Schlüssel verloren und, in einem besonders bedauerlichen Fall, ein überarbeiteter Unterstaatssekretär seinem Mitarbeiter seinen Schlüssel überließ. Ich sprach bereits mit Lilley vom Geheimdienst der Kriegsmarine, der bereit ist, uns im Hauptgebäude der Admiralität einen eigenen Leseraum zu überlassen, wo das Material den Konsumenten zur Verfügung gestellt und von einem dienstälteren Aufsichtsbeamten dieser Dienststelle bewacht werden könnte. Der Leseraum wird aus Sicherheitsgründen als Konferenzraum der Adriatic Working Party oder kurz AWP bezeichnet. Zugelassene Konsumenten erhalten keine Lesekarten, da hier zu leicht Mißbrauch getrieben werden könnte. Sie weisen sich vielmehr persönlich meinem Aufsichtsbeamten gegenüber aus« - Smiley nahm das Pronomen zur Kenntnis -, »der eine Eintragungsliste mit Fotos der Konsumenten zur Hand hat.«
Lacon, der noch nicht überzeugt war, an das Schatzamt auf dem Weg über seinen verhaßten Gebieter, den Minister, dem unumgänglichen Dienstweg:
»Vorausgesetzt, daß dies notwendig ist, müßte der Leseraum weitgehend umgebaut werden.
1. Werden Sie die Finanzierung übernehmen?
2. Wenn ja, so sollten die Kosten offiziell von der Admiralität getragen werden. Das Department wird vertraulich Rückzahlung leisten.
3. Es erhebt sich ferner die Frage zusätzlichen Aufsichtspersonals, ein weiterer Kostenpunkt...«
Und ferner erhebt sich die Frage größeren Ruhms für Percy Alleline, kommentierte Smiley, während er langsam die Seiten umwandte. Schon blitzte es auf Schritt und Tritt wie ein Leuchtsignaclass="underline" Percy ist auf dem Marsch zum obersten Tisch, und Control könnte ebensogut schon tot sein.
Aus dem Treppenhaus erscholl recht wohltönender Gesang. Ein wallisischer Gast wünschte, stockbetrunken, der Welt eine gute Nacht.
Witchcraft war, wie Smiley sich erinnerte - wiederum war sein Gedächtnis am Zug, die Akten wußten nichts von solchem menschlichen Kleinkram -, keineswegs Percy Allelines erster Versuch, auf seinem neuen Posten eine eigene Operation aufzuziehen; doch da seine Dienstanweisung ihn an Controls Zustimmung band, war er bisher nicht zum Zug gekommen. Eine Zeitlang hatte er sich auf Tunnelbau konzentriert. Die Amerikaner hatten in Berlin und Belgrad Audio-Tunnels gebaut, und die Franzosen hatten sich ähnlicher Einrichtungen gegen die Amerikaner bedient. Schön, nun würde unter Percys Banner auch der Circus in diesen Markt einsteigen. Control sah dem Ganzen milde zu, ein innerdienstlicher Ausschuß wurde gebildet (bekannt als Alleline-Ausschuß), ein Spezialteam der Klempner inspizierte die Fundamente der Sowjetbotschaft in Athen, wo Alleline auf uneingeschränkte Unterstützung durch das letzte Militärregime hoffte, das er genau wie seine Vorgänger ungemein bewunderte. Dann stieß Control ganz sanft Percys Bauklötzchen um und wartete, bis er mit einem neuen Projekt ankam. Und das hatte Percy nach verschiedenen Zwischenversuchen an jenem grauen Morgen getan, an dem Control Smiley mit solcher Entschiedenheit zur Tafelrunde gebeten hatte.