George Smiley beschwört die Erinnerung an Ann und meditiert über Liebe und Freundschaft
Womit mir nur noch Bill übrigblieb, dachte Smiley. Einmal tritt sogar in einer Londoner Nacht eine Lärmpause ein. Zehn, zwanzig Minuten, dreißig, sogar eine Stunde lang grölt kein Betrunkener, schreit kein Kind und prallen keine Autos mit kreischenden Reifen aufeinander. In Sussex Gardens ist das gegen drei Uhr der Fall. In dieser Nacht war es früher, um eins, und Smiley stand wieder einmal an seinem Dachfenster und blickte wie ein Gefangener hinunter auf Mrs. Pope Grahams Sandfleck, wo seit kurzem ein Kombiwagen parkte. Das Dach war mit Slogans bekleckst: Sydney neunzig Tage, Athen Nonstop, Mary LOH, wir kommen. Drinnen glomm Licht, und er vermutete, daß dort ein paar Kinder in trauter Zweisamkeit schlummerten. Teenager sollte er wohl sagen. An den Fenstern hingen Gardinen.
Womit mir nur noch Bill übrigblieb, dachte er und starrte noch immer auf die zugezogenen Gardinen des Kombiwagens und die grelle Globetrotter-Beschriftung; womit ich wieder bei Bill angelangt wäre und unserem freundschaftlichen kleinen Schwatz in der Bywater Street, nur wir beide, alte Freunde, alte Waffengefährten, die »alles miteinander teilten«, wie Martindale sich so elegant ausgedrückt hatte. Aber Ann war für den Abend weggeschickt worden, damit die Männer allein sein konnten. Womit mir nur noch Bill übrigblieb, wiederholte er und fühlte, wie sein Blut in Wallung geriet, seine Vision deutlichere Farben annahm und seine Beherrschung gefährlich zu schwinden begann. Wer war er? Smiley hatte ihn nicht mehr im Griff. Sooft er an Bill dachte, malte er ihn zu groß und jedesmal wieder anders. Vor Anns Affäre mit Bill hatte er geglaubt, ihn recht gut zu kennen: seine Qualitäten und seine Grenzen. Er gehörte jenem angeblich ausgestorbenen Vorkriegstypus an, der gleichzeitig schuftig und nobel sein konnte. Sein Vater war hoher Justizbeamter, zwei seiner schönen Schwestern hatten in die Aristokratie geheiratet; in Oxford war er Parteigänger der unmodernen Rechten gewesen, nicht etwa der modischen Linken, wobei er sich allerdings kein Bein ausriß. Noch vor seinem zwanzigsten Jahr hatte er sich als unerschrockener Forscher und Amateurmaler originaler, wenn auch allzu ehrgeiziger Prägung betätigt: mehrere seiner Bilder hingen jetzt in Miles Sercombes albernem Palais in Carlton Gardens. Er hatte an jeder Botschaft und in jedem Konsulat im ganzen Vorderen Orient seine Verbindungen und nutzte sie rücksichtslos. Er erlernte mühelos die ausgefallensten Sprachen, und als das Jahr neununddreißig kam, holte ihn sich der Circus, der seit Jahren ein Auge auf ihn gehabt hatte. Der Krieg war eine Glanzzeit für ihn. Er war überall zugleich und charmant; er war unorthodox und zuweilen hemmungslos. Wahrscheinlich war er ein Held. Der Vergleich mit Lawrence drängte sich auf. Es stimmte ferner, wie Smiley zugab, daß Bill seinerzeit mit wichtigen historischen Problemen experimentiert hatte; alle möglichen großartigen Pläne für ein Wiedererstarken Englands zu Einfluß und Größe vorbrachte - wie Rupert Brooke sprach er selten von Großbritannien. Doch selbst in seinen wenigen objektiven Augenblicken konnte Smiley sich kaum an ein Projekt erinnern, das je vom Start gekommen wäre.
Für die andere Seite von Haydons Charakter indessen vermochte Smiley als Kollege eher Respekt aufzubringen: die Unbeirrbarkeit des geborenen Agentenführers, sein hochentwickeltes Gefühl für das rechte Maß beim Zurückspielen von Doppelagenten, und das Aufziehen von Ablenkungs-Operationen; seine Fähigkeit, Zuneigung, sogar Liebe zu hegen, auch wenn sie anderen Bindungen zuwiderlief.
Als Zeuge dafür ausgerechnet meine eigene Frau - besten Dank! Vielleicht ist Bill wirklich ein Sonderfall, überlegte er bei seinem verzweifelten Bemühen, eine Norm zu finden. Wenn er sich Bill jetzt vorstellte und ihn mit Bland, Esterhase und sogar Alleline verglich, so schien es Smiley allen Ernstes, daß die anderen nur mehr oder weniger unvollkommene Nachahmungen des Originals waren, Nachahmungen Haydons. Daß ihre Posen nur Versuche waren, sich zum gleichen unerreichbaren Ideal des perfekten Mannes hochzuschrauben, mochte die Vorstellung auch irrig oder unzutreffend sein; mochte Bill ihrer auch im höchsten Maß unwürdig sein. Bland und seine demonstrative Ungeschliffenheit, Esterhase und sein künstliches super-englisches Gehabe,
Alleline und sein unechter Führungsanspruch: ohne Bill waren sie Nullen. Smiley wußte auch oder glaubte zu wissen - der Einfall kam ihm jetzt wie eine sanfte Erleuchtung -, daß Bill dagegen für sich allein auch sehr wenig war: daß er, während seine Bewunderer - Bland, Prideaux, Alleline, Esterhase und der ganze übrige Supporter-Club - ihn für vollkommen hielten, in Wahrheit sie für sich einspannte, Anleihen aus ihren passiven Persönlichkeiten machte, hier ein Stück, dort ein Stück, und damit sein eigenes Ich abrundete: mit diesem Trick die Tatsache verschleierte, daß er weniger, viel weniger war als die Summe seiner scheinbaren Qualitäten . . . und schließlich seine Abhängigkeit von ihnen hinter der Arroganz des Künstlers verbarg, der sie als Geschöpfe seines Genius bezeichnete . . . » Jetzt reicht's aber«, sagte Smiley laut.
Er riß sich abrupt aus seiner Meditation los, verscheuchte sie ärgerlich als eine seiner vielen Theorien über Bill und kühlte sein überhitztes Denken durch die Erinnerung an ihre letzte Begegnung.
»Sie wollen mich vermutlich über den verdammten Merlin ausquetschen«, begann Bill. Er wirkte müde und nervös; es war kurz vor seiner Abreise nach Washington. In den alten Tagen hätte er ein unpassendes Mädchen mitgebracht und sie Anns Gesellschaft überlassen, während er mit Smiley das Geschäftliche besprach; von Ann erwartete er, daß sie dem Mädchen gegenüber sein Genie herausstrich, dachte Smiley boshaft. Sie waren alle von der gleichen Sorte: Halb so alt wie er, schmuddelige Bohemeweiber, mürrische Kletten; Ann sagte, er müsse einen Hoflieferanten haben. Und einmal brachte er sogar einen gräßlichen Knaben namens Steggie an, Hilfskellner aus einer der Kneipen in Chelsea, mit offenem Hemd und einem Goldkettchen um den Magen.
»Es heißt allgemein, Sie schreiben die Berichte«, erklärte Smiley. »Ich dachte, das sei Blands Job«, sagte Bill mit seinem füchsischen Grinsen.
»Roy macht die Übersetzungen«, sagte Smiley. »Sie verfassen die kommentierenden Berichte; sie sind auf Ihrer Maschine geschrieben. Das Material darf Stenotypistinnen nicht zugänglich gemacht werden.«
Bill hörte aufmerksam zu, er hatte die Brauen hochgezogen, als könne er jeden Augenblick unterbrechen oder zu einem passenderen Thema übergehen, dann hievte er sich aus dem tiefen Sessel und schlenderte zum Bücherregal, wo er um ein ganzes Fach höher hinauf reichte als Smiley. Mit den langen Fingern fischte er einen Band heraus, schlug ihn auf, grinste.
»Percy Alleline ist nicht gut genug«, verkündete er und blätterte um. »Ist das die Prämisse?«
»So ziemlich.«
»Was bedeutet, daß auch Merlin nicht gut genug ist. Merlin würde gut genug sein, wenn er meine Quelle wäre, nicht wahr? Was würde passieren, wenn unser lieber Bill hier zu Control spazieren und sagen würde, er habe einen großen Fisch und wolle ihn selber drillen? >Große Klasse, Bill, mein Junge, klar tun Sie das. Ein Täßchen Hundepiß?< Er hätte mir einen Orden verliehen, anstatt Sie in den Korridoren herumschnüffeln zu lassen. Wir waren einmal ein feiner Haufen. Warum sind wir so vulgär geworden?«