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»Von Bill?«

»Das weiß der Himmel. Bill weiß es bestimmt nicht.« Am nächsten Vormittag stellte Smiley wider eigene Absicht fest, daß Bill seit zwei Tagen zurück war, nicht erst seit einem. In der Folge benahm Bill sich Smiley gegenüber ungewohnt manierlich, und Smiley vergalt es ihm mit einer Zuvorkommenheit, die nor­malerweise jüngeren Freundschaften vorbehalten ist. Nach an­gemessener Zeit wurde Smiley deutlich, daß die Katze aus dem Sack war, und noch heute war er perplex, mit welcher Ge­schwindigkeit es sich herumgesprochen hatte. Vermutlich hatte Bill vor irgend jemandem damit geprahlt, vielleicht vor Bland. Wenn das Gerücht stimmte, dann hatte Ann drei ihrer eigenen Regeln verletzt. Bill war vom Circus und er war vom Set, wie sie Familie und Freundeskreis bezeichnete. Aus jedem der bei­den Gründe war er tabu. Drittens hatte sie ihn in der Bywater Street empfangen, laut Übereinkunft ein grober Verstoß gegen den Revierfrieden.

Wieder einmal zog Smiley sich in sein eigenes einsames Leben zurück und wartete darauf, daß Ann etwas sagen würde. Er übersiedelte ins Gästezimmer und sorgte dafür, daß er eine Menge abendlicher Verabredungen hatte und auf diese Weise von ihrem Kommen und Gehen weniger bemerkte. Ganz allmählich däm­merte ihm, daß sie zutiefst unglücklich war. Sie nahm ab, verlor ihre spielerische Art, und wenn er sie nicht so gut gekannt hätte, hätte er geschworen, sie leide unter einem schweren Anfall von Zerknirschung, ja, von Abscheu vor sich selber. Wenn er freund­lich zu ihr war, wehrte sie ihn ab; sie zeigte kein Interesse an Weihnachtseinkäufen und erkrankte an einem quälenden Husten, was, wie er wußte, ihr SOS-Ruf war. Ohne die Operation Testify wäre er schon früher mit ihr nach Cornwall abgereist. So aber mußten sie die Reise bis Januar verschieben, und dann war Con­trol tot, Smiley pensioniert und das Blatt hatte sich gewendet; und um die Schmach vollzumachen, deckte Ann die Haydon-Karte mit jeder Menge anderer, die sie aus dem Haufen heraus­ziehen konnte.

Was war passiert? Hatte sie die Beziehung abgebrochen? Oder Haydon? Warum sprach sie nie darüber? War es denn überhaupt so wichtig, eine Affäre unter so vielen anderen? Er gab auf. Wie die Katze aus Alice im Wunderland schien Bill Haydons Gesicht zu verschwimmen, sobald er sich ihm näherte und nur das Grin­sen blieb. Aber er wußte, daß Bill auf die eine oder andere Art Ann zutiefst verwundet hatte, und das war die unverzeihlichste aller Sünden.

Merlin beginnt endlich, menschliche Züge anzunehmen

Mit einem Grunzen des Abscheus kehrte Smiley an den wenig einladenden Schreibtisch zurück und setzte seine Lektüre von Merlins Fortschritten seit seinem erzwungenen Ausscheiden aus dem Circus fort. Die Ära Alleline hatte, wie er sofort sah, unver­züglich mehrere vorteilhafte Veränderungen in Merlins Lebens­stil bewirkt. Etwas wie eine Reifung, eine Beruhigung. Die nächt­lichen Spritztouren in europäische Hauptstädte hörten auf, der Nachrichtenstrom wurde regelmäßiger, weniger hektisch. Gewiß, es gab noch allerhand Kopfschmerzen. Merlins Geldwünsche gingen weiter - Ersuchen, niemals Drohungen -, und mit dem anhaltenden Wertverfall des Pfundes wurden diese ansehnlichen Zahlungen für das Schatzamt zu einem Alptraum. Es fand sich einmal sogar eine — nie weiter verfolgte - Anregung, Merlin möge »da wir das Land seiner Wahl sind, auch in etwa unserem finan­ziellen Engpaß Rechnung tragen«. Haydon und Bland waren offensichtlich empört gewesen: »Ich habe nicht die Stirn«, schrieb Alleline mit ungewohnter Offenheit an den Minister, »meinen Mitarbeitern dieses Thema nochmals vorzutragen.« Außerdem hatte es Krach wegen einer neuen Kamera gegeben, die von den Klempnern unter großem Kostenaufwand in röhren­förmige Bestandteile zerlegt und in eine genormte Stehlampe sowjetischer Herstellung eingepaßt worden war. Die Lampe wurde nach großem Wehgeschrei, diesmal aus dem Foreign Office, per Diplomatengepäck nach Moskau gemogelt. Dann stellte sich das Problem der Ablieferung. Die Außenstelle konnte nicht über Merlins Identität informiert werden und wußte auch nicht, was in der Lampe steckte. Die Lampe war sperrig und paßte nicht in den Gepäckraum des Wagens des Außenagenten. Nach mehreren Versuchen wurde eine »unsaubere« Übergabe be­werkstelligt, aber die Kamera funktionierte nie, und es gab böses Blut zwischen dem Circus und seiner Moskauer Außenstelle.

Ein weniger raffiniertes Modell wurde von Esterhase nach Hel­sinki gebracht und dort - so Allelines Aktennotiz an den Mini­ster - »einem vertrauenswürdigen Mittelsmann übergeben, der unbehelligt die Grenze passieren konnte«. Plötzlich richtete Smiley sich mit einem Ruck auf. »Wie besprochen«, schrieb Alleline in einer Notiz an den Minister, datiert mit dem 27. Februar dieses Jahres. »Sie erklärten sich einverstanden, dem Schatzamt einen zusätzlichen Antrag für ein Londoner Haus vorzulegen, das im Witchcraft-Budget geführt werden soll.« Er las es einmal, dann nochmals langsamer. Das Schatzamt hatte sechzigtausend Pfund für das Anwesen und weitere zehntausend für Einrichtung und Zubehör bewilligt. Es wollte jedoch, zwecks Kostenersparnis, die Überschreibung durch seine eigenen An­wälte erledigen lassen. Alleline weigerte sich, die Adresse mitzu­teilen. Aus dem gleichen Grund gab es Unstimmigkeiten darüber, wer die Unterlagen verwahren sollte. Dieses Mal blieb das Schatz­amt hart, und seine Anwälte trafen Vorsorge, daß das Haus zurückgegeben würde, falls Alleline sterben oder Bankrott machen sollte. Aber die Adresse behielt er für sich, desgleichen die Recht­fertigung dieses außergewöhnlichen und kostspieligen Beitrags zu einer Operation, die angeblich im Ausland abgewickelt wurde. Smiley suchte eifrig nach einer Erklärung. Die Abrechnungen waren darauf angelegt, wie er bald herausfand, keine zu liefern. Sie enthielten einen einzigen verkappten Hinweis auf das Lon­doner Haus, und zwar, als die Steuern verdoppelt wurden. Der Minister an Alleline: »Ich nehme an, das Londoner Ende ist noch immer wichtig?« Alleline an den Minister: »Eminent. Ich möchte sagen, mehr denn je. Ich möchte ferner sagen, daß der Kreis derer, die Bescheid wissen, sich seit unserem Gespräch nicht erweitert hat.« Bescheid- worüber?

Erst als er sich wieder den Akten zuwandte, in denen das Witchcraft-Produkt bewertet wurde, stieß er auf die Lösung. Das Haus war Ende März bezahlt worden. Unmittelbar darauf wurde es bezogen. Genau vom gleichen Datum an begann Merlin, mensch­liche Züge anzunehmen, und sie stellten sich hier in Form der Konsumentenkommentare dar. Bisher war Merlin für Smileys kritisches Auge eine Maschine gewesen: fehlerlos arbeitend, un­heimlich in der Reichweite, frei von den Streß-Symptomen, die das Arbeiten mit den meisten Agenten so schwierig machten. Jetzt war ihm plötzlich der Gaul durchgegangen.

»Wir legten Merlin Ihre erneuten Fragen wegen der Haltung des Kreml in Sachen eines Verkaufs russischer Ölüberschüsse an die Vereinigten Staaten vor. Wir machten ihn wunschgemäß darauf aufmerksam, daß dies im Widerspruch zu seinem Bericht vom letzten Monat stehe, wonach der Kreml zur Zeit mit der Regie­rung Tanaka wegen eines Vertrags über die Lieferung sibirischen Erdöls an den japanischen Markt Kontakt aufgenommen habe. Merlin sah in den beiden Berichten keinen Widerspruch und lehnt eine Prognose ab, welcher Markt im Endeffekt bevorzugt werden könnte.« Whitehall bedauerte seine Dreistigkeit. »Merlin wird seinen Bericht über die Unterdrückung des georgi­schen Nationalismus und die Aufstände in Tiblisi nicht - wie­derhole nicht - ausweiten. Da er nicht selber Georgier ist, ver­tritt er die gängige russische Ansicht, wonach alle Georgier Diebe und Vagabunden und am besten hinter Gittern seien . . .« White­hall drängte nicht weiter.

Merlin war plötzlich näher gerückt. War es nur der Erwerb eines Londoner Hauses, was Merlin für Smiley in greifbare physische Nähe brachte? Merlin schien aus der Abgeschiedenheit eines Moskauer Winters plötzlich hierher zu ihm, in dieses erbärm­liche Zimmer, gekommen zu sein; auf der Straße vor dem Fenster hielt, wie Smiley wußte, Mendel seine einsame Wache. Aus dem Nichts war ein Merlin aufgetaucht, der redete und Antwort gab und unentgeltlich seine Meinung dartat; ein Merlin, der Zeit hatte für Begegnungen. Hier in London? Der in einem Haus für sechzigtausend Pfund aus- und einging, aß und Bericht erstat­tete, große Töne spuckte und Witze über Georgier riß? War das der Kreis derer, die Bescheid wußten? Der Kern, der sich inner­halb des größeren Kreises der Witchcraft-Konsumenten gebildet hatte?