An dieser Stelle huschte eine höchst ausgefallene Gestalt über die Bühne: ein gewisser J. P. R., ein Neuling in Whitehalls wachsender Gruppe von Witchcraft-Auswertern. Smiley konsultierte die Verteilerliste und stellte fest, daß der volle Name Ribble lautete und daß Ribble dem Research Department des Foreign Office angehörte. J. P. Ribble stand vor einem Rätsel. J. P. R. an die Adriatic Working Party (AWP): »Darf ich mir erlauben, Sie auf eine offensichtliche Diskrepanz bezüglich der Daten hinzuweisen? Witchcraft Nr. 104 (Sowjetisch-französische Gespräche über gemeinsame Projekte im Flugzeugbau) trägt das Datum 21. April. Gemäß Ihrem Begleitschreiben erhielt Merlin diese Information direkt vom General Markow, einen Tag nachdem die Verhandlungspartner sich über einen geheimen Notenaustausch geeinigt hatten. An diesem 21. April indessen war Markow laut Auskunft unserer Pariser Botschaft noch in Paris, und Merlin besuchte, wie aus Ihrem Bericht Nr. 109 hervorgeht, an diesem Tag eine Raketenforschungsanstalt in der Nähe von Leningrad . . .« — Das Schreiben führte nicht weniger als vier ähnliche »Diskrepanzen« an, die zusammengenommen bedeutet hätten, daß Merlin in der Tat so frei beweglich war, wie sein wunderbarer Name besagte.
J. P. Ribble erhielt den bündigen Bescheid, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. In einem getrennten Schreiben an den Minister jedoch machte Alleline eine außerordentliche Eröffnung, die ein völlig neues Licht auf den Charakter der Operation Witchcraft warf.
»Streng geheim und persönlich. Wie besprochen. Merlin ist, wie Sie seit einiger Zeit wissen, nicht eine Einzelquelle, sondern eine Kombination verschiedener Quellen. Obwohl wir unser Möglichstes taten, diese Tatsache aus Sicherheitsgründen vor Ihren Lesern geheimzuhalten, macht es der bloße Umfang des Materials zunehmend schwierig, die Wahrheit zu verbergen. Wäre es nicht an der Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen, zumindest innerhalb gewisser Grenzen? Im gleichen Zusammenhang darf das Schatzamt getrost darauf hingewiesen werden, daß Merlins monatliches Honorar von zehntausend Schweizer Franken nebst einer gleichen Summe für Spesen und laufende Kosten kaum zu hoch gegriffen sind, wenn die Mittel in so viele Teile gehen.« Aber das Schreiben endete in einer härteren Tonart: »Wie dem auch sei, selbst wenn wir übereinkommen, die Tür so weit zu öffnen, so betrachte ich es doch als unerläßlich, daß die Kenntnis von der Existenz des Londoner Hauses und vom Zweck, dem es dient, auf ein absolutes Minimum beschränkt bleibt. Denn sobald Merlins Pluralität unter unseren Lesern bekannt wird, dürfte sich der Londoner Teil der Operation noch heikler denn je gestalten.«
In völliger Ratlosigkeit as Smiley die Briefe immer wieder von neuem. Dann blickte er wie von einem jähen Einfall gepackt auf, sein Gesicht ein einziges Bild der Verwirrung. Seine Gedanken waren so weit weg, so intensiv und komplex, daß das Telefon im Zimmer mehrmals klingelte, ehe er reagierte. Er nahm den Hörer ab und blickte auf die Uhr; es war sechs Uhr abends, er hatte kaum eine Stunde gelesen.
»Mister Barraclough? Hier Lofthouse von der Finanzabteilung, Sir.«
Peter Guillam bediente sich der verabredeten Wendungen, um einen Notruf nach einer sofortigen Zusammenkunft loszulassen, und seine Stimme klang erschüttert.
Peter Guillam setzt die Jagd auf den »Maulwurf« fort
Das Archiv des Circus war vom Haupteingang aus nicht erreichbar. Es war in einem Labyrinth schäbiger Räume und Zwischenstockwerken an der Rückseite des Gebäudes untergebracht, und glich eher einem der Antiquariate, die in dieser Gegend wuchern, als dem organisierten Gedächtnis eines bedeutenden Amts. Der Weg führte durch eine unauffällige Tür in der Charing Cross Road, zwischen einem Rahmengeschäft und einem Tagescafe, dessen Betreten den Mitarbeitern verboten war. An dieser Tür hing ein Schild »Stadt- und Bezirks-Sprachenschule, Lehrereingang«, und ein zweites »C und L Vertriebs-A.G.« Wer hineinwollte, drückte auf den einen oder den anderen Klingelknopf und wartete auf Alwyn, einen weibischen Marinesoldaten, der nur von seinen Wochenenden sprach. Bis etwa Mittwoch sprach er vom vergangenen Wochenende, danach vom kommenden. An diesem Morgen, einem Dienstag, drückte seine Stimmung entrüstete Besorgnis aus.
»Also, was sagen Sie denn zu dem Unwetter?« fragte er, während er Guillam über die Theke das Buch zum Unterschreiben zuschob. »Als wäre man in einem Leuchtturm. Den ganzen Samstag, den ganzen Sonntag. Ich sagte zu meinem Freund: > Da sind wir mitten in London, und hör dir das an. < Soll ich das für Sie verwahren?«
»Da hätten Sie erst dort sein müssen, wo ich war«, sagte Guillam und legte den braunen Segeltuchsack in Alwyns wartende Hände. »Von wegen anhören, man konnte sich kaum aufrecht halten.« Nicht übertrieben freundlich sein, ermahnte er sich. »Und trotzdem liebe ich das Land«, vertraute Alwyn ihm an und verstaute den Sack in einem der offenen Fächer hinter der Theke. »Möchten Sie eine Nummer? Ich muß Ihnen eine geben, der Delphin würde mich umbringen, wenn sie dahinterkäme.«
»Ich vertraue Ihnen«, sagte Guillam. Er ging die vier Stufen hinauf und stieß die Schwingtüren zum Leseraum auf. Darin sah es aus wie in einem improvisierten Hörsaaclass="underline" ein Dutzend Arbeitsplätze, alle in einer Richtung, und eine überhöhte Fläche, wo die Archivarin saß. Guillam setzte sich an die Rückwand. Es war noch früh - zehn nach zehn auf seiner Uhr -, und außer ihm war nur Ben Thruxton von der Forschung da, der die meiste Zeit hier zubrachte. Vor langer Zeit war Ben, als lettischer Dissident verkleidet, mit Aufständischen durch die Straßen Moskaus gerannt und hatte »Tod den Unterdrückern« gebrüllt. Jetzt kauerte er über seinen Schriften wie ein alter Priester, weißhaarig und schweigend.
Als Guillam an das Pult der Archivarin trat, lächelte sie. Wenn in Brixton nichts los war, verbrachte Guillam häufig einen Tag im Archiv und suchte in den alten Fällen nach einem, der sich neu anheizen ließe. Sie war Sal, ein stämmiges, sportliches Mädchen, Leiterin eines Jugendclubs in Chiswick und Trägerin des schwarzen Judogürtels.
»Ein paar hübsche Hälse gebrochen am Wochenende?« fragte er und nahm sich einen Packen grüner Bestellzettel. Sal händigte ihm die Notizen aus, die sie für ihn in ihrem Stahlschrank verwahrte. »Wie immer. Und Sie?«
»Tanten in Shropshire besucht, vielen Dank.«
»Die möcht ich auch mal sehen«, sagte Sal.
Er blieb an ihrem Pult stehen und füllte die Zettel für die beiden nächsten Titel auf seiner Liste aus. Er sah zu, wie sie die Zettel stempelte, die Kontrollabschnitte abtrennte und sie durch einen Schlitz in ihrem Pult warf. »Reihe D«, murmelte sie und gab ihm die Stammzettel zurück. »Die Nummern zwei-acht sind auf halbem Weg links, die drei-acht in der nächsten Nische hinten.« Er öffnete die Tür am rückwärtigen Ende des Saals und betrat die Haupthalle. In der Mitte brachte ein alter Lift, der aussah wie ein Förderkorb, Akten ins Innere des Circus. Zwei müde Stifte pullten ihn, ein dritter betätigte die Winde. Guillam wanderte langsam an den Regalen entlang und las die fluoreszierenden Nummernschilder.