»Lacon schwört, daß er über Testify überhaupt keine Akte habe«, hatte Smiley ihm in seiner üblichen bekümmerten Art gesagt. »Nur ein paar Dokumente über Prideaux' Rückführung, sonst nichts.« Und im gleichen Leichenbitterton: »Ich fürchte demnach, wir müssen uns auf irgendeinem Weg beschaffen, was sich in der Registratur des Circus befindet.«
»Beschaffen« hieß in Smileys Vokabular »klauen«. Ein Mädchen stand auf einer Leiter. Karl Allitson, der Ordner, füllte einen Waschkorb mit Akten für die Funker, Astrid, der Hauswart, reparierte einen Heizkörper. Die Regale waren aus Holz, tief wie Kojen und durch Sperrholzplatten senkrecht durchteilt. Er wußte bereits, daß die Referenznummer für Testify vier-vier-acht-zwei E war, was bedeutete, Nische vierundzwanzig, vor der er jetzt stand. E stand für extinct und wurde nur für tote Operationen verwendet. Guillam zählte bis zum achten Fach von links. Testify sollte das zweite von links sein, aber es war nicht mit Sicherheit zu sagen, denn die Rücken trugen keine Signatur. Nachdem er seine Erkundung beendet hatte, zog er die beiden Akten heraus, die er angefordert hatte, und steckte die grünen Zettel in die dafür vorgesehenen Stahlklammern. »Viel ist bestimmt nicht da«, hatte Smiley gesagt, als wäre es mit dünnen Akten einfacher. »Aber etwas muß da sein, und wäre es nur um den Schein zu wahren.« Das war auch eine Eigenschaft, die Guillam in diesem Moment nicht an ihm schätzte: er sprach, als könnte man seinem Gedankengang folgen, als wäre man die ganze Zeit mit in seinem Kopf.
Er setzte sich und tat, als läse er, dachte jedoch die ganze Zeit an Camilla. Was sollte er mit ihr anfangen? Als sie heute früh in seinen Armen lag, hatte sie ihm erzählt, sie sei einmal verheiratet gewesen. Manchmal redete sie so, als hätte sie schon zwanzig Leben gelebt. Es sei ein Fehlgriff gewesen, also hätten sie's wieder aufgesteckt.
»Was ging denn schief?«
»Nichts. Wir paßten nicht zueinander.«
Guillam glaubte ihr nicht.
»Bist du geschieden?«
»Ich nehme es an.«
»Sei nicht so verdammt albern, du mußt doch wissen, ob du geschieden bist oder nicht!«
Seine Eltern hätten sich darum gekümmert, sagte sie; er sei Ausländer.
»Schickt er dir Geld?«
»Warum sollte er? Er schuldet mir nichts.«
Dann wieder die Flöte, im Gästezimmer, lange fragende Noten im Halblicht, während Guillam Kaffee machte. Ist sie eine Komödiantin oder ein Engel? Wenn er nur ihren Namen durch die Registratur laufen lassen könnte. In einer Stunde hatte sie eine Lektion bei Sand.
Mit einem grünen Zettel für eine vier-drei-Nummer in der Hand stellte er die beiden Akten an ihre Plätze zurück und postierte sich vor der Nische neben Testify. »Abfrage negativ«, dachte er.
Das Mädchen stand noch immer auf seiner Leiter. Allitson war verschwunden, aber der Waschkorb stand noch da. Der Heizkörper hatte Astrid bereits erschöpft, er saß daneben und las die Sun. Auf dem grünen Zettel stand vier-drei-vier-drei, und er fand die Akte sofort, weil er sie bereits früher aufgesucht hatte. Sie hatte einen rosa Umschlag, genau wie Testify. Genau wie Testify war sie ziemlich abgegriffen. Er steckte den grünen Zettel in die Klammer. Er ging wieder den Gang entlang zurück, blickte sich nochmals nach Allitson und dem Mädchen um, dann griff er nach der Akte Testify und vertauschte sie blitzschnell mit der Akte, die er in der Hand hielt.
»Das wichtigste ist meines Erachtens, Peter« - so Smiley - »daß keine Lücke bleibt. Ich schlage daher vor, daß Sie sich eine ähnliche Akte beschaffen, ich meine, eine äußerlich ähnliche, und sie dort einstellen, wo ...«
»Kapiert«, sagte Guillam.
Guillam hielt die Akte Testify ungezwungen in der rechten Hand, Titelseite nach innen, ging in den Lesesaal zurück und setzte sich wieder an seinen Tisch. Sal hob die Brauen und maulte irgend etwas. Guillam nickte ihr zu, daß alles in Ordnung sei, da er annahm, daß sie das habe fragen wollen, aber sie winkte ihn zu sich. Ein Moment der Panik. Die Akte mitnehmen, oder liegenlassen? Was tue ich sonst immer? Er ließ sie auf dem Tisch liegen. »Juliet geht Kaffee holen«, flüsterte Sal. »Möchten Sie welchen?« Guillam legte einen Shilling auf die Theke.
Er blickte auf die Wanduhr, dann auf seine Armbanduhr. Herrgott, hör doch auf, dauernd auf die verdammte Uhr zu sehen! Denk an Camilla, an ihre Unterrichtsstunde, die jetzt anfängt, denk an die Tanten, bei denen du das Wochenende nicht verbracht hast, denk an Alwyn, der nicht in deine Tasche schaut. Denk an alles, nur nicht an die Zeit. Noch achtzehn Warteminuten. »Peter, wenn Sie den geringsten Vorbehalt haben, Hände weg. Das ist das allerwichtigste.« Großartig, und wie soll ich wissen, ob ich Vorbehalte habe, wenn mein Magen das reinste Bienenhaus ist und mir der Schweiß wie heimlicher Regen unterm Hemd rinnt? Noch nie, das konnte er schwören, hatte es ihn so schlimm erwischt.
Er schlug die Akte Testify auf und versuchte zu lesen. Sie war nicht ganz so dünn, aber dick war sie auch nicht. Der erste Abschnitt handelte von dem, was nicht enthalten war: »Anlagen 1 bis 8 bei London Station, siehe auch pfs ellis Jim, prideaux Jim, hajek Wladimir, collins Sam, habold Max . . .« noch eine ganze Fußballmannschaft außerdem. »Interessenten wenden sich an H/London Station oder CR«, was heißen sollte, Chef des Circus und seine Mütter von Amts wegen. Nicht auf deine Armbanduhr schauen, schau auf die Wanduhr und rechne dir's selber aus, du Idiot. Acht Minuten. Komisch, Akten über den eigenen Vorgänger klauen. Komisch, Jim als Vorgänger zu haben, wenn man's recht bedenkt, und seine Sekretärin, die über ihn wachte, ohne jemals seinen Namen zu erwähnen. Die einzige lebendige Spur, die Guillam, abgesehen von dem Arbeitsnamen auf den Akten, je von ihm gefunden hatte, war der verbeulte Tennisschläger, der hinter dem Safe in seinem Zimmer gequetscht war, mit dem eingebrannten J. P. im Griff. Er zeigte ihn Ellen, einem zähen alten Besen, der Cy Vanhofer zum Zittern bringen konnte wie einen Schuljungen, und sie brach in Ströme von Tränen aus, wickelte den Schläger ein und schickte ihn mit dem nächsten Aktenkarren an den Delphin, mit einem persönlichen Schreiben und der dringenden Bitte, ihn Jimmy zurückzuerstatten, »wenn irgend menschenmöglich«. Wie ist Ihr Spiel zur Zeit, Jim, mit ein paar tschechischen Kugeln im Schulterknochen? Noch immer acht Minuten.
»Also, wenn es Ihnen möglich wäre«, sagte Smiley, »ich meine, wenn es nicht zu viele Umstände macht, bringen Sie Ihren Wagen in Ihre Werkstatt. Treffen Sie die Verabredung über Ihr privates Telefon, in der Hoffnung, daß Toby zuhört...« In der Hoffnung. Heilige Perlmutter. Und all sein Liebesgeflüster mit Camilla? Noch immer acht Minuten.
Die übrige Akte schien aus Telegrammen des Foreign Office zu bestehen, aus tschechischen Zeitungsausschnitten, Zeitfunkberichten von Radio Prag, Auszügen einer Verfahrensregelung für die Rückführung und Rehabilitation von »verbrannten« Agenten, Aufträgen an das Schatzamt und einen post mortem Allelines, worin er Control die Schuld an dem Fiasko gab. Lieber du als ich, George.
Guillam fing an, im Geist die Entfernung von seinem Tisch zur Hintertür zu messen, wo Alwyn an der Empfangstheke döste. Er schätzte sie auf fünf Schritt und beschloß, eine taktische Zwischenstation zu machen. Zwei Schritt von der Tür entfernt stand eine Kartentruhe wie ein großes gelbes Klavier. Sie war mit allem möglichen Nachschlagematerial gefüllt. Generalstabskarten, alten Exemplaren von Who's Who, alten Baedekern. Er klemmte sich einen Bleistift zwischen die Zähne, nahm die Akte Testify, schlenderte zur Truhe, suchte ein Telefonbuch von Warschau heraus und fing an, Namen auf ein Blatt Papier zu schreiben. Meine Schrift! Es schrie in ihm: meine Schrift ist ganz zittrig, sie fährt über die ganze Seite, schau dir diese Zahlen an, als wäre ich betrunken! Wieso merkt das niemand? Das Mädchen Juliet kam mit einem Tablett herein und stellte eine Tasse auf seinen Tisch. Er warf ihr eine zerstreute Kußhand zu. Er suchte ein zweites Telefonbuch heraus, von Poznan, glaubte er, und legte es neben das erste. Als Alwyn hereinkam, blickte er nicht einmal auf. »Telefon, Sir«, flüsterte Alwyn.