»Welche?« fragte Kimberley.
»Die, dass Pratt dich auf eine wichtige Mission geschickt hat, oder die, dass dein Onkel gestorben ist. Nebenbei: herzliches Beileid.«
»Du hast ...«
»Mark hat aus dem Büro angerufen«, fiel mir Kimberley ins Wort. »Um mir sein Beileid auszudrücken.«
»Was hast du ihm gesagt?« entfuhr es mir. Meine Stimme klang erschrockener, als mir recht war.
»Keine Angst«, sagte Kimberley kühl. »Ich habe mitgespielt. Er hat nichts gemerkt. Ich nehme an, das war in deinem Sinne?«
»Bitte, Kim«, sagte ich. »Ich kann dir alles erklären, aber ...«
»... nicht jetzt?« unterbrach sie mich. »Brauchst du noch ein bisschen Zeit, um dir eine überzeugende Geschichte auszudenken?«
»Ich muss mir nichts ausdenken«, antwortete ich. »Ich war in Pratts Auftrag unterwegs. Aber niemand im Büro darf etwas davon wissen. Deshalb die Geschichte von meinem Onkel. Es war Pratts Idee.«
»Wieso?«
Ich versuchte es noch einmal, und diesmal brachte ich tatsächlich ein fast überzeugendes Lächeln zu Stande; oder zumindest so etwas wie ein Grinsen. »Es geht um eine Frau«, sagte ich. »Genauer gesagt, um ein Mädchen. Ich kann nicht darüber sprechen.«
»Ein Mädchen?« Kimberleys Misstrauen war nicht besänftigt, aber ich glaubte doch auch eine Spur von Neugier in ihrem Blick zu erkennen.
»Sie ist minderjährig«, sagte ich. »Nicht viel. Es geht nur um ein paar Monate, aber du weißt, wie die Presse ist. Pratt wäre erledigt, wenn die Sache herauskäme. Also hat er mich gebeten, nach Ohio zu fliegen und die Angelegenheit für ihn zu regeln.«
»Wieso ausgerechnet dich?«
»Vielleicht hat er einen Narren an mir gefressen«, sagte ich scherzhaft. »Aber vielleicht bin ich auch einfach nur unwichtig genug, um kein Interesse zu wecken.«
»Und was hast du getan? Ihr die Füße in Beton eingegossen und sie in einen Fluss geworfen?«
»Das alte Wundermittel«, antwortete ich. »Geld.«
»Und dafür hast du dich hergegeben?«
»Ich hatte keine große Wahl«, sagte ich achselzuckend. »Außerdem könnte ein kleiner Gefallen dann und wann meiner Karriere ganz nützlich sein.«
»War es diese Art von Karriere, die dir damals vorgeschwebt hat, als wir nach Washington gekommen sind?« Kimberley schüttelte traurig den Kopf und drückte ihre Zigarette aus. »Ich möchte nicht, dass du solche Dinge tust, John. Weder für Pratt noch für sonst wen.«
»Ich hatte keine Wahl«, beteuerte ich. »Vielleicht war es ein Fehler, aber Pratt ist niemand, der ein Nein als Antwort akzeptiert. Bitte, lass uns heute Abend darüber reden, Schatz. Ich bin todmüde. Hast du die ganze Nacht auf mich gewartet?«
»Ja.« Sie leerte ihren Kaffee, griff nach der Zigarettenschachtel und legte sie nach einem Blick auf den überquellenden Aschenbecher wieder weg, ohne sich bedient zu haben. »Ich nehme an, du gehst heute nicht ins Büro?«
»Erst am Montag wieder«, antwortete ich. »Ein kleiner Extrabonus von Pratt.« In Wahrheit stammte dieser Bonus von Bach. Es wäre nicht besonders glaubhaft gewesen, wenn ich behauptet hätte, die Beisetzung meines Onkels an einem einzigen Tag abgewickelt zu haben.
»Dann geh und leg dich schlafen.« Kimberley stand auf. »Ich muss jetzt los.«
»Du kommst meinetwegen zu spät ins Büro.«
»Nein«, antwortete Kim. »Ich habe einen Vorstellungstermin.«
»Du ... bewirbst dich um einen neuen Job?« fragte ich überrascht.
Kim ging langsam zur Tür und griff im Vorbeigehen nach ihrer Handtasche. Sie drehte sich nicht zu mir herum, als sie antwortete: »Es ist ein bisschen komplizierter. Ich erzähle dir alles, wenn ich zurück bin.«
Ich hatte selbst nicht damit gerechnet, aber ich schlief nicht nur praktisch auf der Stelle ein, kaum dass Kimberley die Wohnung verlassen hatte, ich schlief auch wie das sprichwörtliche Murmeltier und erwachte erst spät am Nachmittag wieder, ausgeruht und ohne die leiseste Erinnerung an einen Alptraum. Ich hatte fest damit gerechnet, ja, ich spürte sogar für einen kurzen Moment so etwas wie eine absurde Enttäuschung: Immerhin hatte ich in der zurückliegenden Nacht den Beweis für eine so ungeheuerliche Bedrohung erhalten, dass ich ihre wahre Größe bisher vielleicht noch gar nicht begriffen hatte.
Meinem Unterbewusstsein schien das herzlich egal zu sein. Ich hatte nicht nur geschlafen wie ein Baby, ich fühlte mich ausgeglichen und entspannt; fast schon heiter.
Möglicherweise war es ja nur Hysterie. Immerhin erfährt man nicht jeden Tag, dass die Welt, auf der man lebt, seit Jahren aus dem Weltall heraus beobachtet wird; und dass diese Beobachter allem Anschein nach alles andere als freundlich sind ...
Ich hörte ein Geräusch, setzte mich überrascht auf und sah mich um. Ich hatte die Vorhänge nicht zugezogen, aber es war trotzdem dunkel im Zimmer. Ich musste den ganzen Tag verschlafen haben. Kein Wunder, dass ich mich so frisch und ausgeruht fühlte wie schon lange nicht mehr. Vielleicht hatte ich sogar noch länger geschlafen, als mir klar war, denn offensichtlich war Kimberley bereits zurück. Unter der Tür drang ein blassgelber Lichtschimmer hindurch, und ich roch das Aroma von frisch aufgebrühtem Kaffee. Vielleicht war es sogar dieser Geruch gewesen, der mich aufgeweckt hatte.
Ich stand auf, und ohne mehr als nur noch ein leichtes Ziehen im verknacksten Knöchel zu spüren, ging ich zur Tür. Als ich sie öffnete, hörte ich Kimberley irgendwo in der Küche hantieren. Das Licht flackerte. Der blassgelbe Schein kam daher, dass das Wohnzimmer nur von zwei Kerzen erhellt wurde, die auf einem festlich gedeckten Tisch standen; direkt neben unseren beiden einzigen Sektgläsern und einer Flasche, deren Etikett ich bei der blassen Beleuchtung zwar nicht erkennen konnte, von der ich aber irgendwie sicher war, dass sie Champagner enthielt.
Verblüfft musterte ich das Arrangement einen Moment, dann setzte ich meinen Weg fort und ging in die Küche. Kimberley stand am Herd und drehte mir den Rücken zu. Sie war so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie mich gar nicht bemerkte, obwohl ich mir keine besondere Mühe gegeben hatte, besonders leise zu sein, und ich beließ es noch für einen Moment dabei. Kimberley trug eine Schürze und dicke Topflappenhandschuhe, aber auch ihre besten Schuhe, Nylonstrümpfe und ein Kleid, das ich noch nie an ihr gesehen hatte.
»Warum hast du mich nicht geweckt?« fragte ich.
Kimberley fuhr erschrocken zusammen und hätte um ein Haar den Topf fallen gelassen, den sie in den Händen hielt. Hastig setzte sie ihn auf die Herdplatte zurück, drehte sich zu mir herum und sah mich mit einem Ausdruck komisch übertriebenen Entsetzens an.
»Mein Gott, John!« stöhnte sie. »Willst du mich umbringen?«
»Das kommt darauf an«, antwortete ich. »Hast du vielleicht noch die eine oder andere Versicherungspolice, von der ich nichts weiß?« Ich trat einen Schritt in die Küche hinein und blieb wieder stehen. »Haben wir einen Grund zum Feiern?«
»Möglicherweise«, antwortete Kimberley geheimnisvoll. »Aber jetzt verschwinde. Männer haben in der Küche nichts zu suchen. Das Essen ist gleich fertig.«
Ich war viel zu verwirrt, um zu widersprechen, und bevor ich meine Überraschung weit genug überwunden hatte, klingelte das Telefon.
»Gehst du bitte mal ran, Schatz?« bat Kimberley. »Wenn es Marybeth ist, dann sag ihr, dass ich in einer halben Stunde zurückrufe.«
Ich wandte mich ganz automatisch um und ging zum Telefon. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Noch während ich nach dem Hörer griff, hatte ich das Gefühl, dass ich es besser nicht tun sollte.
Vielleicht hätte ich besser darauf gehört. Die Stimme, die aus dem Hörer drang, gehörte weder Marybeth noch einer von Kimberleys anderen Freundinnen, sondern Mark Simonson.
»John?« Mark klang ehrlich überrascht; aber nicht unbedingt auf angenehme Weise. »Aber ich dachte, du bist in ...« Er stockte, schwieg geschlagene fünf Sekunden und fuhr dann in verändertem Tonfall fort: »Schade. Ich hatte wirklich gehofft, dass ich mich irre.«