Er ging, aber ich bemerkte es kaum. Ich starrte noch immer die Glasscheibe mit meinem Namen an.
Es dauerte fast eine Minute, ehe ich auch nur die Kraft fand, die Tür zu öffnen und hindurchzutreten.
Dahinter lag ein kleines, einfach eingerichtetes Büro, das nur einen einzigen Schreibtisch enthielt. Auf der lederbezogenen Platte stand ein großer Pappkarton mit meinem persönlichen Besitz, und daneben das kleine Messingschildchen, das vergangene Woche noch auf einem anderen Schreibtisch gestanden hatte.
Langsam, als würde mich jeder Schritt gewaltige Anstrengung kosten, trat ich an den Schreibtisch heran, stellte meine Aktentasche darauf ab und sah mich um. Das Büro hatte ein eigenes Fenster, das auf den Garten des Capitols hinausführte.
Mein Büro.
Ich hatte davon geträumt, ein solches Büro zu haben. Vielleicht in fünf, sechs Jahren, realistisch gesehen in zehn. Eines konnte man Bach nicht nachsagen: dass er nicht großzügig gewesen wäre.
»Gefällt es Ihnen?«
Ich drehte mich zu Pratt herum, ohne zu antworten. Er war unter der Tür stehen geblieben und sah mich kalt an. Ich erblickte Mark hinter ihm, der nicht mit hereingekommen war, aber die Ohren gespitzt hatte. Pratt folgte meinem Blick, trat einen Schritt weiter in den Raum hinein und schloss die Tür. »Eigentlich bin ich ja nur gekommen, um Ihnen mein Beileid auszudrücken, John. Aber das wäre unpassend - schließlich ist niemand gestorben, wie wir beide wissen. Und schon gar nicht Ihr Onkel, John ... ich darf doch noch John sagen? Oder legen Sie Wert auf Mister Loengard?«
»Sir?« fragte ich.
Pratt lächelte dünn. »Sir? Sie beschämen mich, John.«
»Sir, vielleicht lassen Sie mich ...«
»Erklären?« unterbrach mich Pratt. Kopfschüttelnd kam er näher, fuhr mit den Fingerspitzen über die Kante meines Schreibtisches und schüttelte erneut den Kopf. »O nein, John, Sie müssen mir nichts erklären. Die Dinge haben sich geändert. Vor zwei Tagen wollte ich Sie noch feuern - ich nehme an, dass Ihr Freund Simonson Ihnen das bereits erzählt hat?«
»Nicht so direkt«, antwortete ich.
»Sie nehmen es mir doch nicht übel, oder?« fragte Pratt. »Ich meine: Wie konnte ich wissen, wer Sie wirklich sind?«
»Sir?« fragte ich erneut. Ich war vollkommen verwirrt. Ich verstand nicht einmal ansatzweise, wovon Pratt überhaupt sprach. Wäre der Aufwand nicht ein wenig zu groß gewesen, dann hätte ich geargwöhnt, dass all das hier nur sorgsam von Pratt inszeniert worden war, um mich zu demütigen. Aber der Namenszug an der Glastür sprach ebenso deutlich dagegen wie die verhaltene Wut, die in Pratts Augen loderte.
Pratt griff in seine Jacke und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus, das er mir wortlos reichte. Hastig faltete ich es auseinander und überflog seinen Inhalt.
Es war die Fotokopie eines Einweisungsbescheides. Pratts Namen war mit Schreibmaschine darauf eingetragen.
»Was ... ist das?« fragte ich verständnislos.
»Lesen Sie«, sagte Pratt. Seine Stimme bebte jetzt leicht. Ich spürte, wie schwer es ihm fiel, sich noch zu beherrschen. Und als ich das Dokument ein zweites Mal und aufmerksamer las, konnte ich ihn durchaus verstehen. Aus dem Papier ging eindeutig hervor, dass Charles Pratt wegen eines nervösen Nervenzusammenbruches in eine psychiatrische Heilanstalt eingewiesen und nach sechs Monaten unter Vorbehalt entlassen worden war.
»Das ist ...«
»Eine Fälschung«, unterbrach mich Pratt. »Aber es ist auch echt. Verstehen Sie?«
»Nein«, sagte ich ehrlich.
»Ich war niemals in dieser Klinik«, sagte Pratt. »Weder in dieser noch in irgendeiner anderen. Trotzdem ist dieses Dokument echt. Die Klinik hat eine komplette Akte über mich. Eine fünfjährige Krankengeschichte, ärztliche Befunde, Briefe meiner Familie und Freunde ...« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe es überprüft. Vom Chefarzt hin bis zu den Pflegern und einem Dutzend Patienten können sich alle an mich erinnern. Es hätte überhaupt keinen Sinn, zu leugnen. Meinen Glückwunsch, John.«
»Ich verstehe das nicht, Sir«, sagte ich.
»Drehen Sie das Blatt herum«, sagte Pratt.
Ich tat, was er verlangte. Auf der Rückseite der Fotokopie standen mit Schreibmaschine geschrieben drei Worte:
Loengard ist unberührbar
»Man hat mich wissen lassen, dass dieses Dokument an die Öffentlichkeit gelangen könnte, wenn ich Ihnen zu nahe trete, John«, sagte Pratt. »Sie können sich vorstellen, wie sich das in meinem nächsten Wahlkampf machen würde.«
»Damit habe ich nichts zu tun!« sagte ich.
»Womit?« Pratts Augen wurden schmal. »Mit einer gemeinen Erpressung? Sprechen Sie das Wort ruhig aus, John.«
»Ich wusste nichts davon!«
Pratt verzog die Lippen. »Oh, natürlich nicht«, sagte er. »Sie machen sich doch nicht selbst die Finger schmutzig, wie? Ich nehme an, für so etwas haben Sie Ihre Freunde.«
»Sir, ich ...«
Pratt unterbrach mich mit einer wütenden Handbewegung. »Wer steckt dahinter, John? Was hat das alles zu bedeuten? Wer sind Ihre Freunde, und wer, zum Teufel, sind Sie?«
Ich antwortete nicht sofort, sondern sah ihn einen Moment lang schweigend an und reichte ihm die Kopie zurück. Pratt riss mir das Blatt aus der Hand, knüllte es zu einem Ball zusammen und rammte es regelrecht in seine Jackentasche. »Ich warte.«
»Ich ... kann Ihnen diese Frage nicht beantworten, Sir«, sagte ich. Wie auch? Ich wusste die Antwort ja selbst nicht. »Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass ich meinem Land diene.«
»Indem Sie mich wie einen dummen Jungen vorführen?« Pratt schnaubte. Dann wurde sein Blick hart. »Ich weiß nicht, wer Ihre so genannten Freunde sind, John. Sie mögen mächtig sein, aber fühlen Sie sich nur nicht zu sicher. Es gibt Kräfte dort draußen, die noch viel mächtiger sind.«
Ich antwortete nicht, obwohl ich deutlich spürte, dass Pratt auf eine Antwort wartete. Einige Sekunden lang starrten wir uns nur an. Irgendwie gelang es mir, seinem Blick standzuhalten, aber es kostete mich alle Kraft, die ich aufbringen konnte. Ich fühlte mich miserabel. Niemand in diesem Büro hatte sich nicht gewünscht, Pratt eines Tages vor seinen Schreibtisch zitieren und genüsslich heruntermachen zu können, und ich machte da keine Ausnahme. Aber nicht so. Ich empfand keinen Triumph, nicht einmal Schadenfreude. Ich fühlte fast so etwas wie ... Scham. Bachs Geschenke waren vielleicht großzügig, aber sie waren nicht von der Art, an der man lange Freude hat.
»Die Sache ist noch nicht vorbei, John«, sagte Pratt schließlich. »Glauben Sie das ja nicht.«
Damit ging er.
Ich blieb hinter dem Schreibtisch stehen und starrte ihm nach, auch, als er die Tür schon längst hinter sich geschlossen hatte. Das ungute Gefühl, das mich während des Gespräches mit Pratt beschlichen hatte, blieb; wie ein schlechter Geschmack, den man einfach nicht von der Zunge bekam, ganz egal, was man auch tat. Es war nicht Pratts Drohung. Pratt wäre nicht Pratt gewesen, wenn er einfach kopflos das Feld geräumt hätte; aber ich fürchtete ihn nicht. Nicht mehr.
Langsam setzte ich mich, streckte die Hand nach dem Messingschildchen mit meinem Namen aus und zog den Arm wieder zurück, ohne die Bewegung zu Ende zu führen. Und plötzlich hatte ich Angst. Ich wusste jetzt, was dieses Büro war. Ich hatte es für eine Belohnung gehalten, aber das stimmte nicht. Es war eine Botschaft. An Pratt, an mich, und an alle anderen, die sie verstehen konnten. Sie lautete: Majestic fürchtet niemanden. Weder einen Kongressabgeordneten aus Idaho, noch seine Regeln. Wir machen die Regeln.
Ich sah Bach drei Tage später wieder. Diesmal erreichte mich seine Einladung auf weitaus weniger verschwörerische Weise als vor meiner Abreise nach Idaho, und wir trafen uns auch nicht am anderen Ende des Landes, sondern nur ein paar hundert Schritte vom Capitol entfernt, allerdings zwanzig oder dreißig Meter unter der Erde: Steel hatte mich angerufen und mir mitgeteilt, dass mich Bach in seinem Büro bei Majestic erwartete.