»Was ist denn los?« fragte Kim. Auch sie hatte die Stimme aus dem Radio gehört.
Ich zuckte nur mit den Schultern, aber ich musste mich jetzt nicht mehr drängen lassen, um das Schaufenster zu erreichen. Ganz im Gegenteil war plötzlich ich es, der sie zog.
Aus meinen schlimmsten Befürchtungen schien Gewissheit zu werden, als wir das Schaufenster erreichten. In dem Geschäft liefen gleich ein halbes Dutzend Fernsehempfänger, die allerdings alle das gleiche Programm zeigten. Der Ton war ausgeschaltet, aber die Bilder, die auf den Mattscheiben flimmerten, waren so eindeutig, dass sie im Grunde keiner weiteren Erklärung bedurften.
Sie zeigten einen Flottenverband der US-Navy, der offensichtlich mit voller Kraft durch den Ozean pflügte. In raschem Wechsel dazu waren Hubschrauber zu sehen, Einheiten der Air Force und schließlich eine Staffel B-52-Bomber. Zumindest diesen letzten Filmschnipsel kannte ich. Es war eine Archivaufnahme, wie vermutlich alle anderen auch.
Aber es waren auch nicht die Bilder, die mich erschreckten. Plötzlich fielen mir gewisse Meldungen ein, die ich in den letzten Tagen gehört hatte, Informationen, die zum Teil jedermann zugänglich und im Radio ausgestrahlt worden waren, zum Teil aber auch als Geheimsache über meinen Schreibtisch gegangen waren.
In der ersten Sekunde war ich einfach nur erschüttert. Das ... das konnte nicht sein! Es war einfach nicht möglich! Nicht einmal die Russen konnten so verrückt sein.
»Was bedeutet das, John?« fragte Kim. Ihre Stimme klang kein bisschen beunruhigt, sondern nur verstört. Vielleicht ging es ihr ebenso wie mir: Vielleicht wollte sie nicht begreifen, was diese Bilder bedeuteten.
»Er hat es getan!« murmelte ich fassungslos. »Dieser Wahnsinnige hat es wirklich getan!«
»Was?« fragte Kim. »Aber was ist denn nur los?«
»Chruschtschow ist los, Schätzchen«, sagte einer der Männer hinter uns. »Dieser verrückte Russe hat Raketen auf Kuba stationiert.«
Kim erschrak nicht. Sie sah nicht einmal besorgt aus, sondern sah den Mann nur verständnislos an. Dann wandte sie sich wieder an mich. »Sind wir im Krieg, John?«
Ich hätte viel darum gegeben, die Antwort zu wissen. Offiziell waren wir es vermutlich noch nicht, aber das war möglicherweise ein Unterschied, der kleiner war, als selbst ich in diesem Moment noch ahnte. Ich starrte wieder das halbe Dutzend synchroner Bilder auf den Fernsehern im Schaufenster an, und plötzlich war es mir, als begänne ich den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ich stürzte rasend schnell auf einen Abgrund zu, schneller und schneller und schneller, und mit mir stürzte die ganze Welt. Heute weiß jedermann, wie nahe die Welt damals dem atomaren Inferno war, aber in dieser Nacht war ich vielleicht der Einzige aus der kleinen Gruppe, der die ganze Tragweite der Gefahr begriff. Die Männer und Frauen rings um uns herum wirkten nervös und angespannt, aber einige sahen auch beinahe freudig erregt aus, so absurd es auch klingen mag.
»Damit kommt er nicht durch«, sagte ein rothaariger Bursche hinter mir. »Kennedy wird Chruschtschow in den Arsch treten, ihr werdet sehen.«
Ich drehte mich herum und funkelte ihn an. Ich sagte kein Wort, aber irgendetwas in meinem Blick musste ihn abgrundtief erschreckt haben, denn sein schadenfrohes Grinsen erlosch schlagartig, und er wich instinktiv einen Schritt von mir zurück.
»Was ist los mit Ihnen?« fragte er nervös. »Sind Sie etwa so ein Scheiß-Kommunistenfreund?«
»Halt bloß die Klappe, du Idiot«, sagte ich. »Weißt du überhaupt, was da vor sich geht?«
»John.« Kimberley legte mir die Hand auf den Unterarm, und die Berührung brach den Bann.
Plötzlich wurde mir nicht nur klar, dass ich mich wie ein kompletter Narr benahm, sondern dass ich auch drauf und dran war, mir eine gehörige Tracht Prügel einzuhandeln. Der Bursche war einen Kopf größer als ich, und ein gutes Stück breitschultriger, und McCarthy war zwar zu diesem Zeitpunkt noch ein gesichtsloser Gouverneur, dessen Name niemandem etwas sagte, aber sein Geist war bereits deutlich zu spüren. Ich hielt dem Blick des rothaarigen Jungen noch eine trotzige halbe Minute lang stand, dann drehte ich mich mit einem Ruck herum und ging.
Kimberley folgte mir mit schnellen, festen Schritten. »Was ist los mit dir, John?« fragte sie. »So habe ich dich ja noch nie erlebt! Ist es wegen der Berichte im Fernsehen?« Sie zögerte einen Moment, dann fragte sie noch einmaclass="underline" »Sind wir im Krieg, John?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber vielleicht solltest du dir schon einmal eine Aktentasche besorgen. Und ein weißes Blatt Papier. Du weißt doch: duck and cover.«
Kimberley sah mich nur irritiert an, aber ich sah auch, dass ich ihre fast unnatürliche Ruhe nun endlich erschüttert hatte. Sie sagte nichts mehr, doch hinter ihrer Stirn begann es sichtbar zu arbeiten.
Wir hatten das Apartmenthaus erreicht. Kim griff in die Manteltasche und zog ihren Schlüsselbund heraus, aber ich löste mich von ihrem Arm und steuerte den Wagen an, der einige Schritte entfernt am Straßenrand stand. »Wo willst du hin?« fragte Kim.
»Ich muss noch einmal weg«, antwortete ich ausweichend. »Warte nicht auf mich.«
»Um diese Zeit? Aber wohin denn, um Gottes willen.«
»Ich muss zu Bach. Warte nicht auf mich.«
»Zu Bach? Aber warum rufst du ihn nicht einfach an?« Ich stieg in den Wagen, warf die Tür hinter mir zu und startete den Motor, ohne zu antworten. Ich sah im Rückspiegel, dass Kim auf mich zuzurennen begann, hämmerte den Gang hinein und trat das Gaspedal bis zum Boden durch, so dass der Wagen mit durchdrehenden Reifen losjagte. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich musste zu Bach. Ich musste mit ihm reden, um herauszufinden, was hinter diesem Wahnsinn steckte, und dann ...
Was? Die Welt retten?
Der Gedanke erschien mir plötzlich selbst so absurd, dass ich hinter dem Steuer laut zu lachen begann. Es war ein durch und durch hysterisches Lachen, aber als es vorbei war, da hatte ich mich auch halbwegs wieder beruhigt.
Zumindest weit genug, um zu begreifen, dass ich in die falsche Richtung fuhr.
Bach wohnte in einem jener unauffälligen Vororte, in denen sich Hunderttausend-Dollar-Häuser hinter unauffälligen Fassaden verbargen und in der Auffahrt der Drittwagen des Sohnes stand, während der Chevy des Hausherren hinter dem Garagentor verborgen blieb und die Heizung des Pools abends ausgeschaltete wurde, damit man den aufsteigenden Dampf nicht sah. Es war nach elf, als ich ankam, aber im Haus brannte noch Licht, und hinter dem Fenster neben der Tür flackerte der blaue Schein eines Fernsehers. Vermutlich gab es in dieser Nacht niemanden in Amerika, der nicht vor dem Fernseher saß und gebannt der Stimme des Nachrichtensprechers lauschte.
Es gab keine Klingel, so dass ich klopfen musste. Die Reaktion erfolgte sofort. Schritte näherten sich der Tür, dann blickte mich ein im ersten Moment vollkommen perplexer, dann fast zorniger Bach an.
»John?«
»Darf ich reinkommen?« Ich beantwortete meine Frage selbst, indem ich die Tür aufschob und einfach an ihm vorbeiging. Bach war noch immer so perplex, dass er nicht einmal versuchte, mich aufzuhalten. Eine Sekunde lang starrte er mich nur ratlos an, dann drehte er sich herum, warf einen raschen, aber sehr aufmerksamen Blick nach draußen und schloss dann die Tür.
»Ich bin allein gekommen«, sagte ich.
Bach legte den Kopf schräg. »Woher haben Sie diese Adresse?«
Ich lachte leise. »Ich bin Agent, Captain, schon vergessen? Und ich hatte einen guten Lehrer. Ich nehme an, Sie haben die Nachrichten verfolgt?«