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Das war das Paradoxe am Neuen Europa. Man tippte auf ein Wunder und stieß auf Gemeinsamkeiten; man tippte auf eine gemeinsame Geschichte und schlug sich den Kopf an der stumpfen Kante eines Wunders.

* * *

Die Expedition wurde anderthalb Tage von Regen verfolgt, das Tiefland glitzerte unter einem feinen, silberhellen Nebel. Der Rhein wälzte sich durch wilde Wälder, darwinische Wälder von tiefem Moosgrün, die schließlich einem weiten, grünen Teppich aus einer großblättrigen Pflanze wichen, die Tom Compton Fingerkraut nannte. Das Fingerkraut hatte zu blühen begonnen, die winzigen, goldenen Blüten verliehen den Wiesen einen verfrühten Anstrich von Herbst. Für darwinische Verhältnisse ein einladender Anblick — ging man aber ins Fingerkraut, so der Grenzer, dann nicht ohne kniehohe Stiefel, sonst kam man unweigerlich mit dem aggressiven, gelben Saft der Pflanze in Kontakt und zog sich einen unangenehmen Nesselausschlag zu. Schwebende Insekten, so genannte Nesselfliegen, standen tagsüber in Schwärmen über der Ebene, doch trotz ihres martialischen Aussehens hatten sie keinerlei Appetit auf Menschen und mochten sich, wenn man sie ließ, sogar auf die Fingerkuppe setzen, der kleine, lichtdurchlässige Körper eine einzige feine Filigranarbeit, die an gläsernen Weihnachtsschmuck erinnerte.

Die Weston ging mitten im Fluss vor Anker. Guilford, wieder einigermaßen bei Kräften, ging an Land, um Sullivan beim Sammeln von Fingerkraut und einem Dutzend anderer Wiesenpflanzen zu helfen. Die Proben kamen in Sullivans Pflanzenpresse, die gepressten und getrockneten Exemplare kamen in eine Dose, die in Wachstuch eingeschlagen war. Sullivan zeigte ihm eine besonders auffällige, orangefarbene Blume, die überall am sandigen Ufer wuchs: »Ihrer ganzen Struktur nach könnte sie mit dem englischen Mohn verwandt sein. Aber diese hier sind männlich, Mr. Law. Insekten verbreiten die Pollen, indem sie die Staubgefäße regelrecht verschlingen. Die weibliche Blume — hier ist eine, sehen Sie? —, das ist eigentlich gar keine Blume, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Eher ein Docht, den man in Honig getaucht hat. Ein immenser Stempel von wimperiger Struktur, damit die männlichen Pollen zum Gynäzeum gelangen. Insekten bleiben oft daran kleben und mit ihnen die Pollen. Dieses Schema ist typisch für ganz Darwinia und kommt bei terrestrischen Pflanzen nicht vor. Die äußere Ähnlichkeit ist verblüffend, eine Koinzidenz. Als ob derselbe Evolutionsprozess zwei verschiedene Kanäle benutzt hätte — wie der Fluss hier, der dem Rhein ziemlich ähnlich sieht, aber eben nur ziemlich. Er entwässert ungefähr dasselbe Hochland und fließt ungefähr in denselben Ozean, aber die Haken, die er schlägt, sind unberechenbar.«

Und die Strudel, dachte Guilford, und die Stromschnellen, obwohl der Fluss bislang ganz friedlich gewesen war. Ob der Strom der Evolution auch so launisch war?

Sullivan, Gillvany, Finch und Robertson nahmen den Tag in Beschlag — Digby, der Koch der Expedition, nannte das Kollektiv ›Plants and Ants, Stones and Bones‹. Die Nacht gehörte Keck, Tuckman und Burke, den Landvermessern und Navigatoren mit ihren Sextanten und Sternen und Karten bei Lampenlicht. Guilford konnte es nicht lassen, Keck nach der genauen Position zu fragen, denn seine Antworten waren jedes Mal so urkomisch: »Wir fahren in die Kölner Bucht ein, Mr. Law, und wenn noch alles beim Alten wär, könnten wir bald Düsseldorf sehen.«

Die Weston liegt in einer breiten, trägen Flusskehre vor Anker, die T. Compton ›Cathedral Pool‹ nennt. Der Rhein kommt aus einem friedlichen Senkungsgraben, östlich von uns das hügelige Bergische Land, irgendwo vor uns die Rheinschlucht. Üppig bewaldetes Gebiet: Moscheebäume (größer als die englische Spezies), riesige khakifarbene Salbeikiefern, dichtes Unterholz. Vielleicht Brandgefahr bei anhaltender Trockenheit. Im anderen Europa war das ein Braunkohlenrevier; laut Compton wurden hier Prospektoren gesichtet, auch Stollen & flache Minen (selten), und wir haben primitive Straßen & ein paar Boote und Flöße gesehen. Finch sucht Beweise für verkokbareKohle, behauptet, aus dieser Region würde eines Tages ein Eisen- und Stahlzentrum. So Gott will, mit Roheisen aus den Oolithböschungen der Côtes de Moselle, falls die USA einen Kontinent ›fenced with borders‹ verhindern.

Für Sullivan ist Kohle ein weiterer Beleg für ein urzeitliches Darwinia, eine stratigraphische Konsequenz aus der tertiären Aufwölbung des Rheinplateaus. Die eigentliche Frage sei, ob die darwinische Geologie mit der des alten Europas identisch sei und Unterschiede nur auf andere Witterungseinflüsse & Flussverläufe zurückzuführen sind; oder ob die darwinische Geologie nur ungefähr die gleiche ist, also Abweichungen zeigt — was wichtig für unsere Alpenüberquerung ist: Eine unerwartete Schlucht am Mont Genevre oder Brenner würde uns ernüchtert nach J’ville zurückschicken.

Wetter schön, blauer Himmel, Strömung stärker inzwischen.

Das würde so nicht bleiben, wusste Guilford: diese gemütliche Kreuzfahrt mit gut versorgter Kombüse, diese sorglosen Tage mit Kamera und Pflanzenpresse, die Kiesstrände ohne lästige Insekten oder sonstiges Getier, die sternklaren Nächte, wie er sie nur aus Montana kannte. Die Weston dampfte weiter den Senkungsgraben hinauf und die Felswände wurden immer steiler, die Trümmer immer dramatischer, bis es Guilford nicht mehr schwerfiel, sich das alte Europa vorzustellen, die verschwundenen Burgen (»Eberbach«, würde Keck jetzt loslegen, »Marksburg, Burg Sooneck, Kaiserpfalz…«), Scharen von teutonischen Kriegern mit Stacheln und Quasten auf dem Helm…

Doch das war nicht das alte Europa, man merkte es auf Schritt und Tritt: die rastlosen Dornfische in den Untiefen, der Zimtgeruch der Salbeikieferwälder (weder Salbei noch Kiefer, große Bäume, das Geäst eine einzige wendeiförmig ansteigende Rampe), die Nachtrufe von namenlosen Kreaturen. Hier gab es Menschen — Guilford sah ab und zu ein Floß, auch Treidelleinen, Trapperhütten, Rauch von Holzfeuern, Fischreusen —, aber diese Menschen waren erst seit kurzem hier.

Und so fand er eine Art Trost in der Menschenleere dieses Landes, in der eigenen erschreckenden Anonymität, Fußabdrücke hinterlassend, wo bislang noch keine gewesen waren, wohl wissend, dass das Land sie bald wieder tilgen würde. Das Land verlangte nichts und gab nichts als sich selbst.

Doch die sorglosen Tage waren gezählt. Die Weston näherte sich Rheinfelden. Dann musste sie kehrtmachen. Und dann, dachte Guilford, werden wir erst wissen, was es heißt, allein zu sein in dieser Wildnis aus Fels und Wald.

Die Rheinfelden-Kaskade oder der Rheinfall, Endstation für die Schifffahrt. Bis hier war Tom Compton gekommen. Ein paar Trapper, so Compton, wollen mit ihren Kähnen bis zum Lake Constance gekommen sein. Aber Trapper neigen zur Prahlerei.

Die Wasserfalle sind nicht so spektakulär wie die Niagarafälle, aber sie sind eine gebieterische Barriere für alles, was auf dem Wasser fährt. Dichter Nebel über dem Fluss, eine große, bleiche Gewitterwolke hängt über den schwitzenden Felsen & bewaldeten Hügeln. Das Wasser eine einzige rasche, grüne Strömung, Regenwolken verdunkeln den Himmel, auf jedem Felsen und in jedem Spalt ein moosartiges Gewächs mit zierlichen, weißen Blüten.

Habe die Kaskade studiert & photographiert. Fahren zu einer Stelle zurück, die sich als Portage eignet: Wir brauchen Packtiere. Tom Compton weiß von einem ansässigen Pelztierzüchter, der uns vielleicht Tiere verkauft.