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Als daraufhin einer der Rädelsführer in der Absicht, die sinkende Stimmung zu heben und die unbequemen Knirpse einzuschüchtern, auf diese zutrat und drohend fragte: "Wer hat euch befohlen, die Wische zu verteilen?" antwortete der Jüngste, indem er sich an sein Pioniertuch faßte: "Der, in dessen Namen wir das blaue Tuch tragen, Ernst Thälmann."

Der Bleistift

Von den vielen Anekdoten, die über Ludwig Renn im Umlauf sind, erscheint mir eine Aufzeichnung besonders wert, weil sie, gleichsam in der Nußschale, alles enthält, was diesen in vieler Hinsicht bemerkenswerten Mann kennzeichnet: seinen Mut, seine Bescheidenheit, seinen Humor und seine Höflichkeit, welch letzte nicht, wie es so häufig vorkommt, einen Mangel an Gemüt verdeckt, sondern aus einem reinen und warmen Herzen kommt.

Es war im spanischen Bürgerkrieg. Die italienischen Legionäre Francos hatten die Front der Republikaner durchbrochen und jagten diese vor sich her. Schon glaubten sie, einen entscheidenden Sieg errungen zu haben, als ihnen ein Gegenstoß zum Verhängnis wurde. Sie verloren nicht nur das Gelände, das sie bereits gewonnen hatten, sondern auch die ganze Schlacht.

Den Umschwung bewirkte vornehmlich ein Stabsoffizier der Internationalen Brigaden, der sich barhaupt und nur mit einem Bleistift in der Hand den flüchtenden Republikanern in den Weg stellte, sie durch seine Kaltblütigkeit und Umsicht zum Sammeln brachte und die aufs neue geordnete Truppe zusammen mit einigen eilig herbeigerufenen Verstärkungen zum Gegenangriff führte. Es war der Schriftsteller Ludwig Renn.

Erst in einer Kampfpause nach der geglückten Operation holte ihn sein Adjutant ein, der beim Alarm hinter ihm hergestürzt, aber im Durcheinander der Schlacht von ihm getrennt worden war.

"Hier Ihr Stahlhelm und Ihre Pistole, Genosse Kommandant!" rief er noch ganz außer Atem. "Und ich kann Ihnen nicht sagen, wie peinlich es mir ist, daß ich damit so spät komme. Ich bitte um Entschuldigung."

"Nict doch", entgegnete Renn, "wenn jemand sich zu entschuldigen hat, so bin ich es. Ich habe mir, ohne Sie zu fragen, Ihren schönen langen Bleistift ausgeborgt, und was gebe ich Ihren zurück? Einen jämmerlichen Stummel!" Bei diesen Worten überreichte er dem andern den Rest, der von dem Bleistift übriggeblieben, nachdem ihn eine Maschinengewchrkugel getroffen hatte. Dann schloß er: "Dabei hat mir schon meine Mutter immer geraten, auf geliehene Sachen besonders aufzupassen. Ich weiß wirklich nicht, wie es passiert ist, daß ich diesmal nicht daran gedacht habe."

Vom Gouverneur, der das Gruseln kennenlernte

Als der Gouverneur des nordamerikanischen Bundesstaates Massachusetts, Fuller, bald nachdem er die Vollstreckung der Todesstrafe an den unschuldig verurteilten Arbeitern Sacco und Vanzetti angeordnet hatte, im Laufe einer Europareise nach Berlin kam, wurde seine Ankunft auf Weisung der Behörden geheimgehalten. Dies geschah, um ähnlichen "peinlichen Szenen" vorzubeugen, wie sie sich in Paris abgespielt hatten, wo der hohe Gast durch "unwillkommene Besuche" zahlreicher Protestdelegationen gezwungen worden war, mehrmals das Hotel zu wechseln und schließlich vorzeitig abzureisen.

Die Vorsichtsmaßregeln der Berliner Behörden schienen zu klappen. Fuller gelangte unerkannt ins Eden-Hotel. Doch kaum hatte er sich zum ersten Imbiß niedergesetzt, läutete das Telefon.

"Gouverneur Fuller?" fragte eine Stimme auf englisch. "Am Apparat. Wer spricht dort?"

"Die Geister von Sacco und Vanzetti, die du gemordet hast!"

Der Imbiß blieb ungegessen, und Fuller fuhr mit dem nächsten Zug ab.

Die Stimme, vor der er die Flucht ergriff, war die Egon Erwin Kischs, der sich auf irgendeine Weise Kenntnis von Fullers Anwesenheit im Eden-Hotel verschafft hatte.

Die Zauberurne

Bei den Wahlen, die von der mit amerikanischer Hilfe zur Macht gelangten Regierung des iranischen Generals Zahedi veranstaltet wurden, um ein Parlament zu erhalten, das willfährig genug wäre, die Verstaatlichung der Ölfelder rückgängig zu machen und das flüssige Gold des Landes aufs neue den ausländischen Erdölgesellschaften auszuliefern, besuchte Loy Henderson, Botschafter der Vereinigten Staaten, das Wahllokal in der großen Teheraner Moschee Sepahsalar, um sich "von dem demokratischen Charakter der Wahl" zu überzeugen.

In der Moschee befand sich, als der Botschafter mit einem ganzen Troß amerikanischer und britischer Zeitungskorrespondenten dort eintraf, nur ein einziger Wähler, ein kleiner spitzbäuchiger Basarhändler. Er wurde angesichts der hohen Gäste von der Kommission mit besonderer Höflichkeit registriert und durfte, ohne erst das übliche Kreuzfeuer drohender Fragen bestehen zu müssen, seinen Stimmzettel einwerfen.

Nachdem er dies besorgt, verneigte er sich vor der Wahlurne dreimal bis zur Erde. "Warum tut er das?" fragte der Botschafter aus Amerika. Seine Frage wurde dem Händler übersetzt, worauf dieser, nach einer weiteren Verneigung, in vollem Ernst antwortete: "Ich erweise dieser geheimnisvollen Urne nur den Respekt, der ihr gebührt. Sie verfügt über Zauberkräfte. Wenn man eine Stimme für die Opposition hineinwirft, wird sie drinnen in eine Stimme für Zahedi verwandelt. Das ist doch ein Wunder, wie man es nicht alle Tage erlebt."

Es gibt Zeugen, die beschwören können, daß diese Geschichte der Wahrheit entspricht. Dagegen gibt es keine Zeugen, die mitzuteilen vermöchten, was nachher mit dem Spitzbauch geschehen ist.

Die Geschwister von Eavensbrück

Die nachfolgende Geschichte wurde mir von Anna Seghers erzählt, als wir uns nach sieben Jahren des Exils (die sie in Mexiko, ich in den Vereinigten Staaten verbracht hatte) im Hause eines gemeinsamen New-Yorker Freundes wiedersahen.

"Ich habe dir", sagte Anna gleich nach den ersten Worten der Begrüßung, "den Stoff zu einer Anekdote mitgebracht. Es handelt sich um einen Vorfall von der Art, wie du sie in deinen "Unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten" beschrieben hast."

Sie sprach in der ihr eigenen zerstreuten und zugleich überaus eindringlichen Weise, mit dem Glimmer des Traums in den jung gebliebenen Augen unter dem weiß gewordenen Haar. "Ja, ich kann mir den Bericht über diesen Vorfall nur in deiner Anekdotensammlung vorstellen, und deshalb bekommst du auch den Stoff geschenkt. Sonst hätte ich mir ihn nämlich selbst behalten."

Sie lachte, fuhr dann aber mit doppelter Eindringlichkeit fort: "Du mußt mir nur versprechen, daß du dir dazu auch die richtige Moral ausdenken wirst, damit es zum Schluß nicht etwa so aussieht, als werde die ganze Geschichte bloß erzählt, um das Walten einer gnädigen Vorsehung zu zeigen… Aber was denn?" unterbrach sie sich im selben Atemzug, "was wäre das für eine Vorsehung, die, um ihr gütiges Walten an drei Menschen zu erweisen, Hunderttausende in den Gaskammern und auf den Hinrichtungsstätten der faschistischen Vernichtungslager umkommen lassen muß! Nein, mit dem, was man ein Mirakel der Vorsehung nennt, hat der Fall, von dem ich dir erzählen will, nichts zu tun; wohl aber ist er im besten Sinne des Wortes wunderbar. Du weißt doch", sie neigte sich über den Tisch zu mir und senkte ihre Stimme "ich glaube an Wunder. Freilich ist es eine besondere Gattung; ich heiße sie die Wunder der Wirklichkeit, und wenn ich ihnen begegne, fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt — in die Zeit, da die Märchen noch zum Alltag gehörten."

Verloren in den Rauch ihrer Zigarette blickend, machte sie eine Pause.

Dann begann sie unvermittelt mit ihrer Geschichte, die ich hier wiederzugeben versuche, wie sie mir, über die Jahre hin, im Ohr haftengeblieben ist.

Als nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches bekannt wurde, daß sich unter den sogenannten entwurzelten Personen, welche die Landstraßen Deutschlands und die Sammellager der Alliierten bevölkerten, zahlreiche Kinder von vergasten und lebendig verbrannten Juden befanden, beschlossen die wenigen jüdischen Emigrantenfamilien, die auf der Flucht vor den Nazis ein Asyl in Mexiko gefunden hatten, dreißig dieser Waisen in ihre neue Heimat kommen zu lassen und an Kindes Statt bei sich aufzunehmen.