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Heinz Konsalik

Das Bernsteinzimmer

Puschkin 1941

Sie war wirklich nicht das, was man ein hübsches Mädchen nennen konnte. Die schwarzen, strähnigen Haare hingen ihr in fettigen Zotteln wirr ins Gesicht, an ihren Kleidern klebte Schmutz aus getrockneter Erde, und Grashalme wie gelbrote verdorrte Buchenblätter hatten sich in den Stoffalten verfangen… kein Anblick, der einen Mann reizte, auch nur einmal hinzusehen. Aber wenn man die Strähnen aus dem Gesicht wischte, starrten einen schöne, fast schwarze Augen an. Hochangesetzte Backenknochen erinnerten an Bilder tatarischer Frauen, die Nase war klein und der Mund, jetzt verzerrt und mit zitternden Lippen vor Angst und Verzweiflung, verlief in einem sanften Schwung.

Unterleutnant Lew Semjonowitsch Wechajew stand der Sinn ganz woanders als bei der Entdeckung solcher Vorzüge. Er wischte auch nicht das Blut ab, das dem Mädchen aus dem Haar über der linken Schläfe sickerte, die Wange hinunterlief und einen roten Strich auf dem Hals bildete: er sah keinen Anlaß zu irgendeiner Hilfe, denn das Mädchen trug einen deutschen Militärmantel. Darunter, verdreckt wie alles an ihr, konnte er das Kleid einer Roten-Kreuz-Schwester erkennen, den Kragen geschlossen mit der runden Brosche, ebenfalls eine faschistische Uniform, wie Lew Semjonowitsch es voll erbarmungsloser Wut nannte.

«Was reden wir herum, Genossen?«sagte er. Abschätzend wog er mit der einen Hand die schwere Pistole aus dem Futteral an seinem Gürtel, als wolle er ihr Gewicht prüfen.»Eine Spionin ist sie! Trägt sie eine deutsche Uniform oder nicht, na?! Hat sie sich in einer Erdhöhle im Wald versteckt? Machen wir es kurz, und dann weiter mit uns! Kein Grund, lange zu diskutieren.«

Der Zufall hatte den kleinen Trupp sowjetischer Soldaten ausgerechnet in diesem Waldstück haltmachen lassen. Die Spezialeinheit von neunzehn Mann und zehn leeren Lastwagen war auf dem Weg zur dritten Kompanie des zweiten Garderegimentes, um aus den Schlössern vor Leningrad noch zu ret-ten, was in der Kürze der Zeit noch zu retten war. An einem friedlichen sonnigen Morgen, dem 22. Juni 1941, waren plötzlich auf breiter Front deutsche Armeen in Rußland eingefallen. Sturzkampfbomber, kurz Stukas genannt, heulten aus dem blauen Himmel auf Dörfer, Städte und Menschen herab, und es setzte sich ein Kriegsmaterial in Bewegung, wie es die Welt noch nie gesehen hatte. Den Schock und das lähmende Entsetzen ausnutzend, stießen die deutschen Truppen unaufhaltsam in die Weite des russischen Landes hinein, trieben die sowjetischen Divisionen vor sich her und glaubten, wie vorher in Polen, an einen neuen Blitzsieg. Ihre Panzer durchbrachen die Stellungen, in endlosen Kolonnen folgte ihnen die Infanterie, die Artillerie ebnete ihr den Weg durch brennende Ortschaften und aufgerissene, hoch in der Frucht stehende Felder.

Nun marschierten die Deutschen auf Leningrad zu, während ihre Bomber die Stadt und ihre Vororte zerhackten. Tausende Menschen, Greise, Frauen und sogar Kinder, hoben breite Gräben aus, bauten Panzersperren, tief gestaffelte Verteidigungslinien und Erdbunker. An allen Frontabschnitten zerbrach der heldenhafte Widerstand der sowjetischen Divisionen an dem Vorsturm der deutschen Truppen, und der Leningrader Stabschef Generalmajor Nikischew meldete dem General Stabschef der Roten Armee, General Boris M. Schaposchni-kow:»Ich habe keine Reserven mehr. Der kleinste feindliche Einbruch kann nur durch rasche Improvisationen einzelner Einheiten abgewehrt werden.«

Am 8. September erreichte Marschall Georgij Schukow die Aufforderung Stalins, nach Moskau in den Kreml zu kommen. Stalin empfing ihn sofort, reichte ihm beide Hände und sagte:»Georgij Konstantinowitsch, meinen Glückwunsch, meine Hochachtung. Sie haben die faschistischen Aggressoren im Mittelabschnitt aufgehalten. Welch ein Erfolg! Jetzt werden die Deutschen sehen, wie stark wir sein können. Was haben Sie nun vor?«

«Zurück zur Front. «Schukow warf einen verwunderten Blick auf Stalin. Hatte man ihn nach Moskau befohlen, um ihm zu gratulieren? Nur deshalb? Wer Stalin so gut kannte wie er, konnte das nicht glauben.

«Zur Front. «Stalin nickte ihm wohlwollend zu.»An welche Front?«

Einen Augenblick schwieg Schukow vor Verblüffung. Doch dann begriff er den Grund, warum er hier im Kreml, in der Schaltzentrale von Rußlands Verteidigung stand.»An die Front, an der Sie mich für nötig halten, Genosse Generalsekretär«, antwortete er.

«Dann fliegen Sie sofort nach Leningrad, Georgij Kon-stantinowitsch. «Stalins Gesicht wurde ernst, seine schwarzen Augen bekamen einen ungewohnt traurigen Blick.»Die Lage ist dort so gut wie hoffnungslos.«

Am 9. September landete Marschall Schukow auf dem Flughafen von Leningrad. Über dem Ladogasee war er noch kurz von zwei deutschen Messerschmitt-Jägern verfolgt worden, bis endlich die sowjetische Luftsicherung eingriff und die Jäger abdrehten. Der Befehlshaber der» Nord-West-Front«, wie die nördliche Heeresgruppe der Sowjetarmeen hieß, Marschall Woroschilow, empfing seinen Nachfolger Schukow und die drei mit ihm gekommenen Generäle mit einem resignierten Ausdruck im Gesicht, las Stalins Brief und nickte schwermütig.»Ich bin eben ein alter Mann«, sagte er müde.»Was sein muß, muß sein. Dies ist ein anderer Krieg als der Bürgerkrieg. Er muß anders geführt werden. Georgij Konstantinowitsch… wird Stalin mich liquidieren lassen?«

«Sie sind ein alter Freund von ihm…«

«Aber ich habe in seinen Augen versagt.«

«Nein… die Deutschen waren nur schneller. Das ist alles. Was wird aus Leningrad? Ich weiß es nicht. Vielleicht folge ich Ihnen bald, Kliment Jefremowitsch. Ich werde vieles anders machen als Sie, aber ob es richtig ist, wird sich noch zeigen müssen. Ist diese Stadt zu retten? Können wir eine Belagerung durchstehen?«

«Wir sollten mit dem Schlimmsten rechnen. «Woroschilow trat an das Fenster seines großen Arbeitszimmers und sah hinauf in den wolkenverhangenen Himmel. Es wird regnen, dachte er. Die Felder werden zu Sümpfen, die Straßen zu Schlammlöchern… Jetzt müßte ein langer Regen kommen und die deutschen Armeen ersaufen lassen. Noch kennen sie nicht Rußland, wenn die nasse Erde sie festhält und Pferd und Wagen, Menschen und Maschinen in ihr versinken.»Ich habe damit begonnen, die größten Kunstschätze aus den Schlössern zu retten. Skulpturen, Gemälde, Münzsammlungen, wertvolle Möbel, Gobelins, Kristall, Schmuck… Sehen Sie mich nicht so fassungslos an, Genosse Schukow. Ich habe aus Moskau genaue Instruktionen bekommen.«

«Gemälde! Gobelins! Möbel! Dabei brauchen wir jede Hand, die ein Gewehr halten kann, und Sie lassen alten Bojarenschmuck aus den Glasvitrinen holen.«

«Außerdem hatte ich nicht genug Transportmittel. «Wo-roschilow hob die Schultern, als friere er. Er ist wirklich ein alter müder Mann, dachte Schukow und empfand so etwas wie Mitleid mit dem Marschall.

«Auch heute arbeiten Tag und Nacht vor allem Frauen daran, aus dem Katharinen-Palast in Puschkin das Wertvollste zu verpacken und hierher in die Gewölbe der Isaak-Kathedrale zu schaffen. Fast 20 000 Gegenstände haben sie schon weggebracht. Aber wenn der deutsche Vormarsch anhält, sind die Faschisten eher in Puschkin, als wir alles ausbauen können. Vor allem wird es unmöglich sein, einen der größten Schätze zu retten. Das Bernsteinzimmer…«

«Bernsteinzimmer?«Schukow zog das Kinn an. Er hatte von diesem Saal mit seinen Mosaiken, Gemälden, Spiegeln und aus Bernstein geschnitzten Figuren an den Wänden schon gehört, aber ihn nie gesehen. Auch Fotos hatte er irgendwann in einer Zeitschrift betrachtet, ohne aber von der Ergriffenheit angesteckt zu werden, die man den Verfassern dieses Berichtes anmerken konnte. Nur Zorn, erinnerte er sich jetzt, war ihn damals überkommen bei dem Gedanken, wie verschwenderisch, ja verbrecherisch die Fürsten und Zaren gelebt hatten, auf dem Rücken des Volkes, der Bauern und Leibeigenen, der armen Kulaken, die man auspreßte bis aufs Blut.»Es ist nicht zu retten?«»Die Deutschen rücken genau auf Puschkin vor, und ich habe nicht genug Lastwagen. Außerdem ist es völlig unmöglich, daß die Frauen den ganzen Saal demontieren. Mehr zerstören als retten könnten sie. Meine Seele weint, Georgij Konstantino-witsch.«