«Vor allem muß er extremen Streß vermeiden, jede Art von Anspannung unter lebensbedrohlichen Umständen. Wenn du siehst, daß er in einen derartigen Geisteszustand gerät — und du wirst es merken, wenn du es siehst —, halt ihn auf. Verführe ihn, schlage ihn, fang an zu weinen, werde wütend… ganz egal, aber laß ihn da nicht reinrutschen. «Morris Panov, guter Freund, Arzt und so hilfreicher Therapeut meines Mannes.
Gleich nachdem sie allein waren, hatte sie versucht, ihn zu verführen. Es war ein Fehler gewesen, sogar etwas absurd, unangenehm für beide. Beide waren nicht auch nur im mindesten erregt gewesen. Dennoch war die Situation nicht wirklich peinlich geworden. Sie hatten auf dem Bett gelegen, sich in den Armen gehalten und verstanden.
«Wir sind echte Sexbolzen, was?«sagte Marie.
«Wir waren schon einmal hier«, erwiderte David Webb sanft,»und ich habe keinen Zweifel daran, daß wir noch ein weiteres Mal herkommen werden. «Dann rollte sich Jason Borowski zur Seite und stand auf.»Ich muß eine Liste machen«, sagte er drängend, als er zu dem malerischen Bauerntisch an der Wand hinüberging, der gleichzeitig als Schreib- und Telefontisch diente.»Wir müssen wissen, wo wir sind und wohin wir fahren.«
«Und ich muß Johnny auf Tranquility anrufen«, fügte Marie hinzu, als sie auf die Füße kam und ihr Kleid glattstrich.»Wenn ich mit ihm gesprochen habe, rede ich mit Jamie. Ich werde ihn beruhigen und ihm sagen, daß wir bald zurück sind. «Auch sie ging zum Tisch hinüber und blieb dann stehen, weil ihr Mann ihr den Weg versperrte — ihr Mann und doch nicht ihr Mann.
«Nein«, sagte Borowski leise und schüttelte den Kopf.
«Das sagst du nicht zu mir«, protestierte die Mutter, und in ihren Augen blitzte Wut auf.»Vor drei Stunden auf der Rue de Rivoli hat sich alles geändert. Nichts ist mehr, wie es vorher war. Verstehst du das nicht?«
«Natürlich, aber ich kann nicht zulassen, daß du jetzt dort anrufst«, antwortete Jason.
«Gehen Sie zum Teufel, Mr. Borowski!«
«Willst du mir nicht wenigstens zuhören. Du wirst mit Johnny und Jamie sprechen, wir werden beide mit ihnen sprechen, aber nicht von hier aus und nicht, solange sie auf der Insel sind.«
«Was…?«
«Ich rufe Alex an und sag ihm, daß er sie allesamt da rausholen soll, inklusive Mrs. Cooper natürlich.«
Marie hatte ihren Mann angestarrt und verstand plötzlich,»oh, mein Gott, Carlos!«
«Ja. Seit heute mittag hat er nur noch einen Ort, auf den er sich einschießen kann: Tranquility. Wenn er es noch nicht weiß, dann wird er es sicher bald erfahren, daß Jamie und Alison bei Johnny sind. Ich vertraue deinem Bruder und seiner persönlichen Schutztruppe, aber ich möchte trotzdem, daß sie bis zum Einbruch der Dunkelheit die Insel verlassen haben. Und ich weiß nicht, ob Carlos die Fernleitungen der Insel angezapft hat und so jeden Anruf zwischen hier und da zurückverfolgen kann, aber ich weiß genau, daß das Telefon von Alex sauber ist. Das ist der Grund, warum du jetzt nicht auf der Insel anrufen kannst.«
«Dann sprich um Himmels willen mit Alex! Worauf, zum Teufel, wartest du?«
«Ich bin nicht sicher. «Einen Moment lang lag ein leerer, panischer Blick in den Augen ihres Mannes, und es waren die Augen von David Webb, nicht die von Jason Borowski.»Ich muß eine Entscheidung treffen. Wohin schicke ich die Kinder?«
«Alex wird es wissen, Jason«, sagte Marie, und ihre Augen hielten seinem Blick stand.»Jetzt.«
«Ja… ja, natürlich. Jetzt. «Der verschleierte, geistesabwesende Blick verschwand, und Borowski griff zum Telefon.
Alexander Conklin war nicht in Vienna. Statt dessen hörte man die monotone Stimme einer Telefonistin, die wie ein Donnerschlag wirkte:»Kein Anschluß unter dieser Nummer.«
Er hatte die Nummer noch zweimal gewählt, im verzweifelten Glauben, daß die französische Telefongesellschaft einen Fehler gemacht hatte. Dann flammten Blitze auf.»Kein Anschluß unter dieser Nummer. «Zum dritten Mal.
Das Umherwandern hatte begonnen, vom Tisch zu den Fenstern und zurück. Wieder und immer wieder, die Vorhänge wurden beiseite gezogen, ängstliche Augen spähten hinaus, Sekunden später brütete er über einer wachsenden Liste von Namen und Orten. Marie schlug vor, etwas zu essen. Er hörte sie nicht, also beobachtete sie ihn schweigend von der anderen Seite des Zimmer aus.
Die schnellen, kraftvollen Bewegungen ihres Mannes waren die einer großen, beunruhigten Katze, weich, fließend, auf der Hut vor dem Unerwarteten, Es waren die Bewegungen Jason Borowskis, von Delta one, nicht die von David Webb. Sie erinnerte sich an die medizinischen Aufzeichnungen, die Mo
Panov zu Beginn von Davids Therapie gesammelt hatte. Viele waren voll wild divergierender Beschreibungen von Leuten, die behaupteten, sie hätten den Mann gesehen, der als das Chamäleon bekannt war, und unter den verläßlichsten von ihnen fand sich der übereinstimmende Hinweis auf die katzenartigen Bewegungen des Killers. Panov hatte damals nach Hinweisen auf Jasons Identität gesucht, denn alles, was sie anfangs hatten, waren ein Vorname und bruchstückhafte Bilder eines qualvollen Todes in Kambodscha. Mo hatte sich oft laut gefragt, ob mehr als pure Sportlichkeit hinter der physischen Gewandtheit seines Patienten stand. Seltsam genug, daß es nicht so war.
Daran dachte Marie, und sie war gleichermaßen fasziniert und abgestoßen von den physischen Unterschieden zwischen den zwei Personen, die ihr Mann war. Beide waren muskulös und anmutig, beide in der Lage, schwierige Aufgaben zu übernehmen, die physische Konzentration und Koordination verlangten, aber während Davids Kraft und Beweglichkeit ihren Ursprung in seinem natürlichen Sinn für Vollendung hatten, waren sie bei Jason angefüllt mit innerer Bosheit, ohne Freude an der Vollendung, nur feindselige Absichten. Als sie Panov darauf hingewiesen hatte, war seine Antwort lakonisch ausgefallen:»David könnte nicht töten. Borowski kann es. Dazu ist er ausgebildet.«
Dennoch war Mo froh gewesen, daß sie den unterschiedlichen» physischen Ausdruck«, wie er ihre Beobachtung nannte, bemerkt hatte.»Das ist ein weiterer Wegweiser für dich. Wenn du Borowski siehst, hol, so schnell du kannst, David wieder zurück. Wenn du es nicht kannst, ruf mich an.«
Sie konnte David jetzt nicht rufen, dachte sie. Um der Kinder, ihrer selbst und Davids willen wagte sie nicht, es zu versuchen.
«Ich geh etwas nach draußen«, verkündete Jason am Fenster.
«Das kannst du nicht!«rief Marie.»Ich bitte dich inständig, laß mich nicht allein.«
Borowski legte die Stirn in Falten, sprach mit leiser Stimme, irgendein unbestimmter Konflikt in seinem Inneren.»Ich fahr nur raus zur Autobahn, um ein Telefon zu suchen, das ist alles.«
«Nimm mich mit. Bitte. Ich kann nicht länger allein bleiben.«
«Also gut… Wir brauchen sowieso einiges. Wir suchen eins von diesen Einkaufszentren und kaufen uns ein paar Sachen zum Anziehen, Zahnbürsten, einen Rasierer… und was uns sonst noch einfällt.«
«Du meinst, wir können nicht nach Paris zurück.«
«Wir können und wir werden wahrscheinlich nach Paris zurückfahren, aber nicht zu unseren Hotels. Hast du deinen Paß?«
«Paß, Geld, Kreditkarten, alles. War alles in meiner Handtasche, von der ich gar nicht wußte, daß ich sie bei mir hatte, bis du sie mir im Wagen gegeben hast.«
«Ich fand, es wäre keine sehr gute Idee gewesen, sie im Meurice zurückzulassen. Komm. Erst ein Telefon.«
«Wen rufst du an?«
«Alex.«
«Das hast du gerade versucht.«