Polizei war in solchen Gegenden gnadenlos streng, sondern wegen des Zustandes der Häuser, die gerade renoviert wurden — was allerdings mit dem Vorteil verbunden war, daß überall Elektrizität verfügbar war.
Carlos stand am gegenüberliegenden Ende des leeren Betonraumes, eine Lampe hinter sich auf dem Boden, die nur seine Umrisse zeigte, sein Gesicht aber im Schatten ließ. Er hatte sich außerdem mit dem hochgeschlagenen Kragen seines schwarzen Anzugs verhüllt. Rechts von ihm stand ein wackliger, niedriger Holztisch, auf dem Aktenordner ausgebreitet lagen, und zu seiner Linken lag hinter einem Stapel Zeitungen, für seine Jünger nicht zu sehen, ein abgesägtes AK-47-Sturmgewehr, Typ 56. Ein vierzigschüssiges Magazin war eingeschoben, ein zweites Magazin im Gürtel des Schakals. Der einzige Grund für diese Waffe lag in den normalen Gepflogenheiten seines Gewerbes. Er erwartete absolut keine Schwierigkeiten. Nur Bewunderung.
Er betrachtete sein Publikum und merkte, daß sich alle acht gegenseitig verstohlene Blicke zuwarfen. Niemand sprach. Die naßkalte Luft in dem schaurig beleuchteten, verlassenen Laden bebte vor bösen Ahnungen. Carlos wußte, daß er diese Furcht vertreiben mußte, so schnell wie möglich, was der Grund war, aus dem er acht angeschlagene Stühle aus den verschiedenen verlassenen Räumen im hinteren Teil des Ladens geholt hatte. Sitzen entspannt. Das war eine Binsenweisheit. Allerdings wurde keiner der Stühle benutzt.
«Danke, daß Sie heute morgen hierhergekommen sind«, sagte der Schakal auf Russisch.»Nehmen Sie sich bitte jeder einen Stuhl und setzen Sie sich. Unsere Unterhaltung wird nicht lange dauern, aber sie verlangt äußerste Aufmerksamkeit… Würde der Genosse neben dem Eingang die Tür bitte schließen. Wir sind vollständig.«
Die alte, schwere Tür wurde von einem steif gehenden Bürokraten mit einem Knarren geschlossen, während sich der
Rest Stühle nahm, wobei jeder seinen oder ihren auf Abstand zu den anderen brachte. Carlos wartete, bis die scharrenden Geräusche von Holz auf Zement verstummten und alle saßen. Nach einem Moment der Stille begrüßte er dann seine Zuhörerschaft noch einmal förmlich wie ein geübter Redner. Er sah jede einzelne Person mit seinen durchdringenden dunklen Augen an, um ihm oder ihr zu vermitteln, besonders wichtig zu sein. Es gab kurze Gesten, meist weiblicher Natur, wenn diejenigen, die er ansah, im Gegenzug ihre Kleider glätteten. Die Kleidung, die sie trugen, war charakteristisch für obere Regierungsbeamte — trist und konservativ, aber gut gebügelt und makellos.
«Ich bin der Monseigneur aus Paris«, begann der Attentäter in der Priesterrobe.»Ich bin derjenige, der mehrere Jahre damit zugebracht hat, jeden einzelnen von Ihnen auszuwählen — mit Unterstützung von Genossen hier in Moskau und der Umgebung —, der Ihnen große Geldsummen geschickt und dafür darum gebeten hat, in aller Stille auf seine Ankunft zu warten und ihm die Loyalität zu erweisen, die er Ihnen gegenüber gezeigt hat… Auf Ihren Gesichtern sehe ich verschiedene Fragen, also lassen Sie mich einiges erläutern: Vor Jahren gehörte ich noch zur Elite von Nowgorod. «Es gab eine leise, dennoch hörbare Reaktion der ausgewählten acht. Der Mythos von Nowgorod war Realität, über die man zwar nur im Flüsterton sprach, die aber trotzdem ihre Wirkung nicht verfehlte. Mit mehrmaligem Kopfnicken quittierte Carlos die Reaktion auf seine Enthüllung und fuhr fort:»Die Jahre seitdem habe ich in vielen verschiedenen Ländern zugebracht und die Interessen der großartigen sowjetischen Revolution vertreten, ein Geheimkommissar mit wechselndem Geschäftsbereich, der zahlreiche Reisen zurück nach Moskau und ausgiebige Nachforschungen in den einzelnen Abteilungen nötig gemacht hat, in denen jeder einzelne von Ihnen eine verantwortliche Stellung einnimmt. «Wieder legte der Schakal eine Pause ein, dann wurde seine Stimme plötzlich scharf:»Verantwortliche Stellungen, aber ohne die Autorität, die Ihnen eigentlich zukäme. Ihre Fähigkeiten sind unterbewertet und unterbezahlt, denn über Ihnen gibt es fast nichts als nutzlosen Ballast.«
Die Reaktion der kleinen Gruppe war jetzt hörbarer und durchweg weniger verkrampft.
«Verglichen mit ähnlichen Abteilungen in den Regierungen unserer Gegner«, fuhr Carlos fort,»hinken wir hier in Moskau weit hinterher, wobei wir weit vorn sein sollten. Und das ist so, weil Ihre Talente von verwurzelten Amtsinhabern unterdrückt werden, die sich mehr um ihre Privilegien als um das Funktionieren ihrer Abteilungen kümmern!«
Die Reaktion war unmittelbar, beinah elektrisch, als die drei Frauen offen, wenn auch leise, applaudierten.
«Aus diesem Grunde habe ich Sie zusammen mit den mir verbundenen Genossen hier in Moskau ausgewählt und Ihnen Geldmittel zukommen lassen — vollkommen zu Ihrer freien Verfügung, denn das Geld, das Sie bekommen haben, ist der ungefähre Gegenwert der Privilegien, die Ihre Vorgesetzten genießen. Warum sollten Sie schlechter gestellt sein?«
Ein bejahendes Rumoren wogte durch die Zuhörer, die sich jetzt gegenseitig ansahen, die Blicke fest, die Köpfe entschlossen nickend. Dann begann der Schakal, die acht Ressorts seiner Jünger aufzuzählen, denen jeweils ein enthusiastisches Kopfnicken folgte.»Die Ministerien für Transport, Information, Finanzen, Import/Export, Justiz, militärische Versorgung, wissenschaftliche Forschung… und nicht zuletzt, Terminplanung… Das sind Ihre Domänen, aber man hat Sie von allen endgültigen Entscheidungen ausgeschlossen. Das ist nicht länger zu akzeptieren Veränderungen müssen her!«
Die Zuhörer erhoben sich beinahe wie ein Mann, nicht länger Fremde, sondern Gefährten, zu einem Ziel vereint. Der Mann nahe der Tür ergriff das Wort:»Sie scheinen unsere Situation gut zu kennen, aber was kann sie ändern?«
«Das hier«, verkündete Carlos und tat eine dramatische Geste zu den Aktenordnern, die auf dem niedrigen Tisch ausgebreitet lagen. Langsam setzte sich die kleine Gruppe wieder hin, einzeln und in Paaren, die einander ansahen, wenn sie nicht die Ordner anstarrten.»Auf diesem Tisch liegen die heimlich gesammelten, vertraulichen Dossiers Ihrer Vorgesetzten — aus jeder der hier vertretenen Abteilungen. Sie enthalten Informationen, die Ihnen sofortige Beförderungen garantieren und in mehreren Fällen Ihren Aufstieg in diese leitenden Büros. Ihre Vorgesetzten werden machtlos sein, denn diese Akten sind Messer an ihren Kehlen — eine Veröffentlichung würde zu Ungnade und Hinrichtung führen.«
«Monseigneur?«Eine Frau Ende Vierzig in einem ordentlichen blauen Kleid stand vorsichtig auf. Ihr graublondes Haar war zu einem festen Knoten gebunden. Sie berührte ihn kurz, befangen, als sie sprach.»Ich werte tagtäglich Personalakten aus… und entdecke regelmäßig Irrtümer… Wie können Sie sicher sein, daß diese Dossiers exakt sind? Durch fehlerhafte Angaben könnten wir in extrem gefährliche Situationen geraten, ist das nicht so?«
«Daß Sie sie überhaupt anzweifeln, ist ein Affront, Madame«, erwiderte der Schakal kalt.»Sie kennen meine Bedeutung. Ich bin über Ihre individuellen Situationen und die Unfähigkeit Ihrer Vorgesetzten aufs genaueste unterrichtet. Und vergessen Sie nicht die großen Ausgaben und Risiken für mich und meine Verbündeten hier in Moskau, die wir auf uns genommen haben, um Ihnen das Leben komfortabler zu gestalten.«
«Wenn ich für mich selbst sprechen darf«, unterbrach ein hagerer Mann mit Brille und einem braunen Straßenanzug.»Ich weiß das Geld zu würdigen — ich habe meine eigenen Mittel in unseren gemeinsamen Fonds einfließen lassen und erwarte dafür eine angemessene Gegenleistung —, aber hat das eine etwas mit dem anderen zu tun? Ich bin beim Finanzministerium und spreche mich frei von jeder Mittäterschaft.«
«Was auch immer das bedeuten mag, Buchhalter, Sie drücken sich in etwa so klar aus wie Ihr lahmgelegtes Ministerium«, unterbrach ein korpulenter Mann in schwarzem Anzug, der für seinen Umfang zu klein war.»Im übrigen lassen Sie Zweifel daran aufkommen, ob Sie überhaupt fähig sind, eine angemessene Gegenleistung zu erkennen! Ich bin in der militärischen Versorgung, und Sie hauen uns ständig übers Ohr.«