Edith Gates ging langsam zur Tür, wo sie sich noch einmal zu ihrem Mann umdrehte und ruhig sagte:»Es geht alles auf Paris zurück, nicht wahr, Randy? Vor sieben Jahren in Paris. Dort ist etwas passiert, oder? Du kamst ziemlich verstört wieder zurück, mit einer tiefen Bedrückung, über die du nicht sprechen wolltest.«
«Raus hier!«
Edith ging hinaus und schloß die Tür hinter sich, ließ aber die Klinke nicht los, und Sekunden später öffnete sie die Tür nur einen Spalt breit und sah zu ihrem Mann hinüber. Der Schock übertraf alle ihre Vorstellungen. Der Mann, mit dem sie seit dreiunddreißig Jahren zusammenlebte, der Rechts-Gigant, der weder rauchte noch trank, stieß sich eine Nadel in den Unterarm.
Kapitel 10
Dunkelheit war über Manassas hereingebrochen, und die Natur belebte sich mit geheimen Aktivitäten. Borowski kroch durch den Wald, der den Besitz des Generals Norman Swayne umgab. Erschrockene Vögel flatterten aus ihren Nachtverstecken auf, Krähen erwachten in den Bäumen, schlugen Alarm und verstummten wieder, als ob sie durch den beutesuchenden Mitverschwörer beruhigt worden seien.
Dann war er da und fragte sich, ob das wirklich wahr sein konnte. Ein Zaun, sehr hoch, aus dichtem Maschendraht in grünem Plastik. Der nach außen geneigte Überhang war mit Stacheldraht gesichert. Zutritt verboten. Peking. Das Jing-Shan-Gehege. Für einige streng geheime Dinge, um die die Regierung eine unüberwindbare Barriere errichtet hatte. Aber warum sollte ein Schreibtischgeneral in Amt und Würden solch eine Barrikade um seinen Grund errichten, ein Hindernis, das Tausende von Dollar kostete?
Wie in China waren keine elektrischen Alarmdrähte durch die Maschen gezogen, denn dann hätten Vögel und andere Tiere dauernd falschen Alarm ausgelöst. Aus demselben Grund würde es wahrscheinlich auch keine verborgenen Lichtfallen geben — wenn überhaupt, dann höchstens nahe beim Haus auf flachem Grund und in Brusthöhe. Borowski nahm seine kleine Drahtschere aus der Gesäßtasche und begann mit den Maschen in Bodennähe.
Bei jedem Schnitt begriff er deutlicher das Offensichtliche, das Unausweichliche, das von jedem seiner schweren Atemzüge und vom Schweiß, der sich auf seiner Stirn bildete, nur noch bestätigt wurde. Egal, wie sehr er sich bemühte — nicht fanatisch, aber beharrlich um sich in einigermaßen guter Verfassung zu halten, er war nun einmal fünfzig Jahre alt. Doch daran durfte er jetzt nicht denken, jetzt, wo er Stück für Stück Fortschritte machte. Da waren Marie und die Kinder, seine Familie. Im Moment gab es nichts, was er nicht konnte, solange er es nur wollte — er, das Raubtier Jason Borowski.
Er war durch! Er packte den Zaun und zog ihn auf, dann kroch er in das seltsam befestigte Gelände hinein. Er horchte, und sein Blick schoß in alle Richtungen, durchbohrte die fahle Dunkelheit. Gefiltert durch die dichten Zweige der großen Pinien, die die Gartenanlagen umgaben, sah er Lichter aufflackern, die vom großen Haus kamen. Langsam arbeitete er sich nach dorthin durch, wo er die Auffahrt vermutete. Er erreichte den Asphaltrand und lag auf dem Bauch unter den niedrigen Zweigen einer Pinie. Er holte Atem und sammelte sich, während er die Umgebung genau beobachtete. Plötzlich war da ganz rechts ein Lichtstrahl, weit hinten am Ende eines Schotterweges, der von der Auffahrt abzweigte.
Eine Tür war geöffnet worden. Sie gehörte zu etwas, das wie ein kleines Haus oder eine große Hütte aussah, und sie blieb geöffnet. Zwei Männer und eine Frau kamen heraus und redeten… nein, sie redeten nicht einfach, sie stritten heftig miteinander. Borowski nahm sein kleines, aber starkes Fernglas und sah hindurch. Schnell hatte er die drei eingefangen, deren Stimmen an Stärke zunahmen, wobei die einzelnen Worte unverständlich blieben, der Zorn war jedoch offensichtlich. Er studierte die drei Leute und wußte augenblicklich, daß der Mann mittlerer Größe, der sich stockgerade hielt und laut protestierte, der PentagonGeneral Swayne war, die großbrüstige Frau mit den glatten dunklen Haaren seine Frau, aber was ihn verblüffte — und faszinierte —, das war die plumpe, massige Figur nahe der offenen Tür. Er kannte ihn! Jason konnte sich nicht erinnern, von wo oder wann, aber die Reaktion seiner Eingeweide bei seinem Anblick war nicht normal. Ihn ergriff ein sofortiger Abscheu, ohne daß er wußte, warum, da ihm nichts einfiel, womit er den Mann hätte in Beziehung bringen können. Nur
Gefühle des Ekels und der Abneigung. Wo waren die Bilder, das kurze Aufblitzen, das so häufig seinen inneren Bildschirm erhellte? Vergeblich… er wußte nur, daß der Mann, den er da im Blickfeld seines Feldstechers hatte, sein Feind war.
Dann tat der riesige Kerl etwas Außergewöhnliches. Er griff nach Swaynes Frau und legte beschützend seinen linken Arm um ihre Schultern, während seine Rechte im Raum zwischen ihr und dem General wild hin- und herstieß. Was immer er sagte — oder bellte, bewirkte bei Swayne eine Reaktion, die zwischen stoischer Ruhe und geheuchelter Gleichgültigkeit zu liegen schien. Er drehte sich um und schritt in militärischer Haltung über den Rasen zu einem rückwärtigen Eingang des Hauses. Borowski verlor ihn in der Dunkelheit aus dem Blick und richtete das Fernglas wieder auf das Paar im Licht der Tür. Der Mann ließ die Frau des Generals los und sprach mit ihr. Sie nickte, küßte ihn flüchtig und rannte ihrem Mann hinterher. Der andere, offensichtlich ihr Geliebter, ging in das kleine Haus zurück und warf die Tür ins Schloß. Danach wurde es dunkel.
Jason befestigte das Fernrohr wieder an seiner Hose und versuchte zu verstehen, was er gesehen hatte. Es war wie ein Stummfilm ohne Zwischentitel gewesen, allerdings mit realistischeren und weniger theatralischen Gesten. Daß es innerhalb dieses eingezäunten Areals eine menage a trois gab, war offensichtlich, aber das konnte schwerlich den Zaun erklären. Der mußte einen anderen Grund haben, einen Grund, den Jason herausfinden wollte.
Sein Instinkt sagte ihm, daß der riesige, schwere Mann, der wütend in sein kleines Haus zurückgekehrt war, etwas damit zu tun hatte. Er mußte zu dem kleinen Haus gelangen, er mußte den Mann sehen, der ein Teil seiner vergessenen Vergangenheit war. Borowski stand langsam auf, lief geduckt von einer Pinie zur nächsten und kam bis ans Ende der Auffahrt. Dann lief er neben dem schmalen, von Bäumen gesäumten Schotterweg weiter.
Stop. Ein Geräusch ließ ihn zu Boden hechten. Irgendwo fuhren Räder, Steine wurden zermalmt und herumgeschleudert. Vorsichtig rollte er sich durch die Dunkelheit der niedrig hängenden, weit ausladenden Pinienzweige, in die Quelle dieser Geräusche auszumachen. Dann sah er etwas aus dem Schatten der runden Auffahrt und über den Schotter der Nebenstraße fahren. Es war ein seltsam geformtes Fahrzeug, wie ein dreirädriges Motorrad, ein sehr kleiner Golfwagen mit großen Profilreifen, die hohe Geschwindigkeiten mit ausreichender Bodenhaftung ermöglichten. Das Fahrzeug sah in gewisser Weise bedrohlich aus, weil es nicht nur eine flexible Antenne, sondern auch gebogene Plexiglasschilde ringsherum hatte, kugelsichere Fenster, die den Fahrer vor Schüssen schützten, während er über Funk die Hausbewohner vor Angriffen warnen konnte. Das war doch alles reichlich seltsam…
Ein zweites dreirädriges Gefährt kam aus dem Schatten hinter der Hütte hervorgeschossen — es war eine Hütte aus behauenen Steinblöcken — und hielt nur wenige Meter vor dem ersten Fahrzeug auf der Schotterstraße. Die Köpfe beider Fahrer richteten sich militärisch-straff auf das Haus, als wären sie Roboter bei einer öffentlichen Vorführung, und dann kamen die Worte aus einem unsichtbaren Lautsprecher.
«Die Tore sichern«, erklang es im Befehlston.»Die Hunde loslassen und die Runden beginnen. «Einer rätselhaften Choreographie folgend, drehten beide Fahrzeuge gleichzeitig und fuhren in entgegengesetzter Richtung in die Dunkelheit. Automatisch hatte Borowski seine CO2-Pistole gelockert. Dann kroch er, ohne Zeit zu verlieren, seitwärts durch das Gebüsch bis dicht an den Zaun. Kamen die Hunde im Rudel, blieb ihm keine andere Wahl, als an den Maschen hochzuklettern und über den Stacheldraht auf die andere Seite zu springen. Mit der Pistole, die über zwei Kammern verfügte, konnte er zwei Tiere eliminieren, nicht mehr. Zum Aufladen würde keine Zeit sein.