Er bückte sich, wartete, bereit zum Sprung den Zaun hinauf. Er hatte eine relativ gute Sicht unter den Ästen hindurch.
Plötzlich raste ein schwarzer Dobermann den Schotterweg entlang, ohne zu zögern, ohne eine Spur aufzunehmen. Die Aufgabe des Tieres war es offenbar, einen bestimmten Platz zu erreichen. Dann erschien ein zweites Tier, ein langhaariger Schäferhund. Er wurde langsamer, widerstrebend, aber instinktiv schien darauf programmiert, in einem bestimmten Gebiet stehenzubleiben. Er hielt inne — eine unscharfe, sich bewegende Silhouette oben an der Straße. Borowski stand bewegungslos und verstand. Es waren abgerichtete Kampfrüden, von denen jeder sein eigenes, von seiner Duftmarke gekennzeichnetes Territorium hatte, sein Revier. Die Hunde waren auf eine Art und Weise abgerichtet, die von asiatischen Bauern bevorzugt wurde. Diese kleinen Grundbesitzer kannten sehr wohl den Preis, den es kostete, die Tiere zu füttern. Aber so schützten sie ihren winzigen, überlebensnotwendigen Besitz. Wenige abrichten, so wenige wie möglich, um die einzelnen Grundstücke vor Dieben zu schützen und wenn es Alarm gab, kamen die anderen zu Hilfe. Asien. Vietnam… Medusa. Ihm fiel alles wieder ein! Vage, dunkle Linien — Bilder. Ein junger, beleibter Mann in Uniform, der aus einem Jeep stieg und Leute anbrüllte. Leute, die von einer Sturmtruppe übriggeblieben waren, zurückgekehrt von der Aufgabe, eine Versorgungsroute parallel zum Ho-Chi-Minh-Pfad auszuschalten. Denselben Mann, älter, breiter, hatte er vor wenigen Minuten mit dem Fernglas erblickt! Und vor Jahren hatte derselbe Mann Nachschub versprochen — Munition, Mörser, Granaten, Funkgeräte. Doch nichts war angekommen! Nur Beschwerden vom Oberkommando Saigon, daß»ihr verdammten Illegalen uns Mist geliefert habt«! Aber das stimmte nicht. Saigon hatte zu spät gehandelt, zu spät reagiert, und sechsundzwanzig Männer waren für nichts und wieder nichts getötet oder gefangengenommen worden.
Borowski erinnerte sich, als wäre alles vor einer Stunde, vor einer Minute geschehen. Er hatte seine 45er aus dem Halfter gerissen und dem Offizier ohne Vorwarnung den Lauf an die Stirn gedrückt.
«Noch ein Wort, und Sie sind tot, Sergeant. «Der Mann war Sergeant gewesen!» Sie bringen uns unsere Sachen bis morgen früh um fünf, oder ich komme nach Saigon und klatsche Sie an die Wand. In welchem Puff auch immer Sie gerade stecken. Habe ich mich klar ausgedrückt? Offen gesagt, würde ich Sie am liebsten jetzt gleich schon umbringen.«
«Ihr bekommt, was ihr braucht.«»Tres bien!« hatte das älteste französische Mitglied von Medusa geschrien; der Mann, der ihm Jahre später in einem Wildgehege von Peking das Leben retten sollte. »Tu es formidable, mon fils!« Wie recht er hatte. Und auch er war tot, der legendäre D'Anjou.
Jasons Gedanken wurden abrupt unterbrochen. Der langhaarige Kampfhund begann laut zu knurren. Suchend drehte er sich um sich selbst. Er hatte die Fährte eines Menschen aufgenommen. Innerhalb von Sekunden hatte das Tier die Richtung ausgemacht, wurde wild und jagte mit gebleckten Zähnen durchs Gebüsch. Borowski sprang rückwärts zum Zaun und zog mit der rechten Hand die CO2-Pistole aus ihrem Nylonhalfter. Den linken Arm leicht angewinkelt, war er bereit zum Gegenangriff. Das rasende, todeslüsterne Tier sprang auf ihn zu. Jason feuerte, erst eine Patrone und dann die zweite, und als die Pfeile ihr Ziel gefunden hatten, schlang er den linken Arm um den Hals des Kampfhundes, drehte den Kopf entgegen dem Uhrzeigersinn und rammte sein rechtes Knie in den Körper des Tieres, um sich vor den scharfen Klauen zu schützen. In wenigen Momenten war es vorbei — Momente eines wilden und dann allmählich nachlassenden Kampfes ohne Heulen oder Bellen, was die Wächter oder den General hätte alarmieren können. Der Langhaarschäfer lag schlaff, mit weit geöffneten, narkotisierten Augen in Borowskis Armen. Er ließ ihn zu Boden gleiten und wartete bewegungslos, bis er sicher war, daß die anderen Tiere nicht aufmerksam geworden waren. Nichts. Nur das konstante Rauschen des Waldes jenseits des Zaunes. Jason brachte seine CO2-Pistole wieder im Halfter unter und kroch vorwärts, in Richtung Schotterweg. Schweiß rann ihm übers Gesicht. Er war tatsächlich schon zu lange aus dem Geschäft. Vor Jahren wäre so eine Angelegenheit sofort vergessen gewesen — un exercice ordinaire, wie die Legende d'Anjou gesagt haben würde —, aber heute war es für ihn keine gewöhnliche Aufgabe mehr. Er war voller Angst, reiner, unverfälschter Angst. Wo war der Mann, der er einmal gewesen war? Aber nein, es half nichts! Marie und die Kinder waren auf der Flucht! Der Schakal mußte gestellt werden!
Borowski machte das Fernglas los und sah hindurch. Das Mondlicht wurde hin und wieder von niedrigen Wolken verdeckt, aber es war hell genug. Er richtete das Glas auf das Gebüsch entlang der Straße auf der anderen Seite des Palisadenzauns. Dort lief ein schwarzer Dobermann wie ein wütender Panther auf einem schmalen, staubigen Pfad hin und her, hielt ab und zu an, um das Bein zu heben, und schnüffelte mit seiner langen Schnauze auch schon wieder weiter in den Büschen. Das Tier war offensichtlich darauf abgerichtet, zwischen den beiden geschlossenen Eisentoren der Ein- und Ausfahrt hin- und herzulaufen. An jedem Checkpoint knurrte er, drehte sich mehrmals um die eigene Achse, als würde er den starken elektrischen Schock verfluchen, den er erhielt, verließ er unnötigerweise sein Revier. Borowski kannte das aus Vietnam. Soldaten dressierten Kampfhunde zur Bewachung von Munitions- und Materiallagern mit einer solchen» Fernsteuerung«. Jason schaute zur anderen Seite des Rasens, der sich vor dem Haus ausdehnte. Dort konnte er ein drittes Tier erkennen, einen riesigen Weimarer, der zwar freundlich aussah, aber tödlich war, wenn er angriff. Der hyperaktive Hund rannte hin und her, vielleicht von Kaninchen oder Eichhörnchen erregt, aber nicht durch den Geruch von Menschen.
Jason versuchte zu analysieren, was er sah, nur so konnte er sein weiteres Handeln bestimmen. Er mußte annehmen, daß es einen vierten oder fünften oder sogar sechsten Hund gab, die irgendwo an den Grenzen von Swaynes Grundstück patrouillierten. Aber warum auf diese Weise? Warum nicht eine Meute, die frei herumlief, was viel einschüchternder ausgesehen hätte? Die Kosten dürften kein Thema sein… Dann kam er auf die Erklärung.
Er schwenkte sein Fernglas vom Weimarer zum Dobermann und zurück, wobei ihm das Bild des deutschen Langhaarschäfers noch deutlich vor Augen stand. Außer daß es trainierte Kampfhunde waren, waren sie noch etwas anderes. Sie waren die Besten ihrer Gattung, hervorragende Züchtungen. Preisträger bei Tag und bösartige Kampfhunde bei Nacht. Natürlich. General Norman Swaynes» Farm «war keineswegs ein nichteingetragener, versteckter Besitz, sondern lag offen und zugänglich da, wurde vielleicht neidisch von Freunden, Nachbarn und Kollegen besucht. Am hellen Tag konnten Gäste die gelehrigen Hunde in ihren gepflegten Zwingern bewundern, ohne zu ahnen, was sie wirklich waren. Norman Swayne, Leiter der Heeresbeschaffung des Pentagon und Schüler von Medusa, war offiziell ein Liebhaber von Rassehunden. Vielleicht verdiente er sogar an ihnen — schließlich gab es im Kanon der militärischen Ethik nichts, was eine solche Praxis untersagt hätte.
Die vorgetäuschte Hundezucht war also ein Ablenkungsmanöver. Der ganze Besitz selbst war vermutlich ebenso falsch wie die Erbschaft, die den Kauf ermöglicht hatte. Medusa.
Eins der beiden merkwürdigen dreirädrigen Fahrzeuge tauchte drüben aus dem Schatten des Hauses auf und fuhr die Ausfahrtstraße hinunter. Borowski fing es mit seinem Glas ein und war nicht überrascht zu sehen, daß der Weimarer angerannt kam und spielerisch um das Gefährt sprang. Er bellte und wollte vom Fahrer belohnt werden. Der Fahrer! Die Fahrer waren die Hundepfleger! Der vertraute Geruch ihrer Körper beruhigte die Hunde. Diese Erkenntnis bestimmte seine Taktik. Jason mußte sich auf dem Gelände des Generals bewegen können, zumindest freier als jetzt. Dazu brauchte er die Begleitung eines Tierpflegers! Er mußte eine Patrouille in seine Gewalt bekommen. Er rannte zurück in den Schutz der dunklen Pinien, dorthin, wo er eingedrungen war.