Sie beide waren frei. Sie von dem furchtbaren Schmerz, er von dem Preis, den Monseigneur verlangte. Auch wenn sie nie erfahren hatte, welches der Preis für ein paar Jahre Glück gewesen war, hatte sie doch gewußt, daß es zu furchtbar gewesen wäre, ihn zu zahlen. Seit Monaten wußte er, daß seine Frau Pillen besaß, mit denen sie ihr Leben beenden konnte, sollte es unerträglich werden. Er hatte sie oft, manchmal wie ein Besessener, gesucht, hatte sie aber nie finden können. Jetzt wußte er, warum, als er die kleine Schachtel mit ihren Lieblingspastillen entdeckte, harmloses Lakritz, die sie sich vor Jahren oft lachend in den Mund geschoben hatte.
«Du hast Glück, man seher, daß ich nicht auf Kaviar oder teure Drogen versessen bin!«Nein, kein Kaviar, aber Drogen, tödliche Drogen.
Schritte. Die Schwester! Sie durfte seine Frau nicht sehen!
Fontaine erhob sich vom Bett, wischte sich rasch über die
Augen und eilte zur Zimmertür. Er öffnete und war beim Anblick der Frau verblüfft. Sie stand direkt vor ihm, mit erhobenem Arm und wollte eben anklopfen.
«Monsieur!.. Haben Sie mich erschreckt!«
«Ich glaube, wir haben uns gegenseitig erschreckt. «Jean Pierre schlüpfte hinaus und schloß rasch die Tür hinter sich.»Regine ist endlich eingeschlafen«, flüsterte er und legte seinen Zeigefinger an die Lippen.»Dieser furchtbare Sturm hat sie die ganze Nacht wach gehalten.«
«Aber er wurde uns vom Himmel gesandt — für Sie —, nicht wahr? Manchmal denke ich, daß Monseigneur solche Dinge bestellen kann.«
«Dann bezweifle ich, daß sie vom Himmel kommen. Dort liegt nicht die Quelle seines Einflusses.«
«An die Arbeit«, unterbrach die Schwester ihn ziemlich barsch.»Sind Sie bereit?«
«Gleich, in wenigen Minuten«, antwortete Fontaine und lief zum Tisch hinüber, in dessen verschlossenem Schubfach seine Killer-Ausrüstung lag. Er griff in die Tasche und holte den Schlüssel heraus.
«Möchten Sie noch mal die Prozedur mit mir durchgehen?«fragte sie und drehte sich um.
«Meinetwegen, natürlich. In meinem Alter vergißt man leicht die Details.«
«Ja, gut, auch weil es eine kleine Veränderung gibt.«
«Ach ja?«fragte der alte Franzose mit hochgezogenen Brauen.»In meinem Alter sind plötzliche Veränderungen nicht mehr sehr willkommen.«
«Es ist nur eine Frage des Timings, nicht mehr als eine Viertelstunde, vielleicht weniger.«
«Eine Ewigkeit bei diesem Geschäft«, sagte Fontaine, als ein weiterer Donnerschlag, nur Millisekunden vom Blitz getrennt, das Prasseln des Regens auf Scheiben und Dach unterbrach.»Es ist gefährlich genug, draußen zu sein. Der Schlag war gefährlich nahe.«
«Wenn Sie das meinen — stellen Sie sich vor, wie sich die Wachen fühlen mögen.«
«Die kleine Veränderung? Könnten Sie das erklären?«
«Ich gebe Ihnen keine Erklärung, außer daß es ein Befehl aus Argenteuil ist und Sie schuld daran sind.«
«Der Richter!«
«Ziehen Sie Ihre eigenen Schlußfolgerungen.«
«Dann wurde er also nicht geschickt, um…«
«Ich sage nicht mehr. Die Änderung ist folgende. Statt von hier den Weg hochzurennen zu den Wachen vor Villa zwanzig und dringende Hilfe für Ihre Frau zu verlangen, werde ich sagen, daß ich vom Empfang komme, wo ich mich über das Telefon beschweren wollte, und daß ich ein Feuer in der Villa vierzehn gesehen hätte. Dann wird zweifellos ein ziemliches Tohuwabohu entstehen: der Sturm, der Feueralarm, Schreie… Das wird Ihr Signal sein. Nutzen Sie die Konfusion. Sie schlängeln sich durch und erledigen jeden, der sich noch vor der Villa der Frau befindet — achten Sie auf Ihren Schalldämpfer. Dann gehen Sie hinein und machen die Arbeit, zu der Sie sich verpflichtet haben.«
«Ich warte also auf das Feuer, auf das Geschrei der Wachen und auf Ihre Rückkehr zur Nummer elf.«
«Genau. Bleiben Sie unter dem Vordach stehen, bei geschlossener Tür natürlich.«
«Natürlich.«
«Es kann fünf Minuten dauern, vielleicht auch zwanzig.«
«Natürlich… Darf ich fragen, Madame — oder vielleicht Mademoiselle, obwohl ich keinen Grund sehe…«
«Was denn?«
«Sie werden fünf oder zwanzig Minuten brauchen, um was zu tun?«
«Sie sind ein Rindvieh, Alter. Zu tun, was getan werden muß.«
«Natürlich.«
Die Schwester hüllte sich fester in den Regenmantel, zog den Gürtel stramm und verließ die Villa.
«Packen Sie Ihre Ausrüstung zusammen und seien Sie in drei Minuten draußen«, befahl sie.
«Natürlich. «Der Wind riß ihr die Haustür aus der Hand, sie ging hinaus in den strömenden Regen und zog die Tür wieder hinter sich zu. Erstaunt und verwirrt blieb der alte Mann regungslos stehen. Er versuchte einen Sinn in das Unerklärliche zu bringen. Die Dinge ereigneten sich zu schnell für ihn und wurden durch den Tod seiner Frau noch unschärfer. Es blieb keine Zeit zu trauern, keine Zeit zu fühlen… Nur denken, schnell denken mußte er. Eine Enthüllung folgte auf die andere und hinterließ unbeantwortete Fragen, die aber beantwortet werden mußten, damit das Ganze verständlich würde — damit Montserrat einen Sinn machte!
Die Schwester war mehr als nur eine Überbringerin der Befehle aus Argenteuil. Der Engel des Erbarmens war ein Engel des Todes, sie war selbst eine Mörderin. Warum also wurde er Tausende Kilometer weit geschickt, um eine Arbeit zu tun, die ein anderer genausogut tun konnte? Ohne eine so ausgeklügelte
Inszenierung? Ein alter Held Frankreichs, wahrlich… es war alles so überflüssig. Und wo er an sein Alter dachte, da war noch ein anderer alter Mann, der keineswegs ein Killer war. Vielleicht, dachte der falsche Jean Pierre Fontaine, habe ich einen furchtbaren Fehler gemacht. Vielleicht ist der andere nicht gekommen, um mich zu töten, sondern um mich zu warnen!
«Mon Dieu«, flüsterte der Franzose.»Die alten Männer von Paris, die Armee des Schakals! Zu viele Fragen!«Fontaine lief schnell zur Tür des Zimmers, in dem die Schwester untergebracht war, und öffnete sie. Mit einer Geschwindigkeit, die er in lebenslanger Praxis erworben hatte, begann er, den Raum methodisch auseinanderzunehmen — Koffer, Schrank, Kleider, Kissen, Matratze, Sekretär, Toilettentisch, Schreibtisch… der Tisch! Ein verschlossenes Schubfach — ein verschlossenes Schubfach im Nebenzimmer. Die Ausrüstung. Jetzt kam es darauf nicht mehr an! Seine Frau war tot, und es gab zu viele Fragen! Eine schwere Lampe auf dem Tisch mit einem massiven Messingständer, er nahm sie und schleuderte sie gegen das Schubfach. Wieder und wieder und immer wieder, bis das Holz splitterte und das Schloß zerbrach. Er zerrte das Fach auf und starrte gleichermaßen mit Entsetzen und Verstehen auf das, was er sah.
In einer gepolsterten Plastikschachtel lagen zwei Spritzen nebeneinander, deren Ampullen mit einer identischen gelblichen Flüssigkeit gefüllt waren. Die chemische Zusammensetzung brauchte er nicht zu wissen. Es gab zu viele, die er nicht kannte, die aber effektiv waren. Flüssiger Tod in die Venen.
Ihm mußte nicht gesagt werden, für wen sie vorgesehen waren. Cöte a cote dans le lit. Zwei Körper nebeneinander im Bett. Er und seine Frau in endgültiger Hingabe vereint. Wie sorgfältig hatte Monseigneur alles ausgeklügelt! Er selbst tot! Ein toter alter Mann aus der Armee der alten Männer des Schakals, der alle Sicherheitsvorkehrungen überlistet und die liebsten Angehörigen von Carlos' letztem Feind, Jason
Borowski, getötet und verstümmelt hatte. Und hinter all diesen brillanten Manipulationen stand natürlich der Schakal. Persönlich! Ce n'est le contrat! Ich, ja, aber nicht meine Frau! Das hast du mir versprochen!