Borowski rannte zum Schreibtisch und hob vorsichtig den Kopf des alten Mannes an. Die schrille, betäubende, alles durchdringende Alarmmaschine machte jede Kommunikation unmöglich. Kaktus öffnete seine dunklen Augen, und seine zitternde Rechte bewegte sich über die Löschunterlage, wobei sein gekrümmter Zeigefinger auf den Tisch klopfte.
«Was ist es?«schrie Jason. Die Hand glitt zur Kante der Unterlage und klopfte schneller.»Darunter? Unten?«Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung seines Kopfes nickte Kaktus bestätigend.»Unter dem Tisch!«schrie Borowski und verstand. Er kniete rechts von Kaktus nieder und tastete unter der schmalen Schublade, dann an der Seite. Ein Knopf. Er schob den Stuhl vorsichtig beiseite und sah sich den Knopf an. Darunter, in weißen Buchstaben auf einem schwarzen Plastikstreifen, stand die Antwort:»Alarm.«
Jason drückte den Knopf. Sofort hörte der brüllende Höllenlärm auf. Die folgende Stille war ebenso betäubend, die Gewöhnung daran ebenso erschreckend.
«Wie wurdest du getroffen?«fragte Borowski.»Wie lange ist es her?… Wenn du nicht reden kannst, flüstere, keinen Energieaufwand, verstehst du?«
«Oh, Bruder, du bist unmöglich«, flüsterte Kaktus.»Ich war ein schwarzer Taxifahrer in Washington, Mann. Hab ich schon mal erlebt. Nicht gefährlich, Junge, nur ein Schuß in die Brust.«
«Ich hole sofort einen Doktor, unseren Freund Ivan, aber wenn du kannst, sage mir, was geschehen ist, während ich dich auf den Boden lege und mir die Wunde anschaue.«
Jason hob langsam und vorsichtig den alten Mann vom Stuhl auf den kleinen Teppich. Er riß das Hemd auf. Die Kugel war durch das Fleisch der linken Schulter gegangen. Mit kurzen, schnellen Bewegungen riß er das Hemd in Streifen und legte einen strammen, primitiven Verband um die Brust seines Freundes.
«Nicht besonders gut«, sagte Jason,»aber es wird eine Weile halten. Nun sag schon.«
«Er ist dort draußen, Bruder!«Kaktus hustete leicht und legte sich zurecht.»Er hatte eine 357er Magnum mit einem Schalldämpfer. Er hat mich durch das Fenster erwischt. Dann zerschlug er es und kletterte herein… Er, er…«
«Ruhig! Sprich nicht, egal…«
«Ich muß. Die Brüder draußen, sie wissen nichts. Er wird sie umlegen!.. Ich spielte den Toten, und er hatte es eilig, und wie! Schau, dort drüben!«Jason blickte in die Richtung, in die Kaktus zeigte. Etwa ein Dutzend Bücher war aus dem Wandregal herausgerissen und über den Boden verstreut worden. Der alte Mann fuhr mit schwächerer Stimme fort:»Er rannte panisch zu dem Bücherregal, bis er fand, was er suchte… dann zur Tür, die 357er schußbereit, wenn du verstehst… Ich dachte mir, daß er hinter dir her ist, daß er dich durch das Fenster in das andere Zimmer hatte gehen sehen, und ich sage dir, ich suchte mit meinem Knie wie verrückt, denn ich hatte den Alarmknopf vor einer Stunde gefunden, und wußte, daß ich ihn stoppen mußte.«
«Langsam!«
«Ich muß es dir sagen… Ich konnte meine Hände nicht rühren, sonst hätte er es gesehen, aber mein Knie fand den Knopf, und die Sirene hat mich beinahe aus dem Stuhl gehauen… Der verdammte Bastard kippte fast um. Er knallte die Tür zu, schloß sie ab und zog sich durch das Fenster wieder zurück. «Kaktus' Kopf sank nach hinten. Der Schmerz und die Erschöpfung übermannten ihn.
«Das reicht!«befahl Borowski. Er langte vorsichtig nach oben und schaltete die Lampe aus. Als einzige Lichtquelle blieb ein schwacher Schein von der Diele her.»Ich rufe Alex an. Er soll den Doktor schicken…«
Plötzlich war von draußen ein sehr hoher Schrei zu hören, ein schreckliches Angstbrüllen, das Jason nur zu gut kannte. Kaktus auch, der mit geschlossenen Augen flüsterte:»Er hat einen erwischt. Dieser Hund hat einen Bruder erwischt!«
«Ich rufe Conklin an«, sagte Jason und zog das Telefon vom Tisch.»Dann geh ich raus und hol ihn mir… Oh, Gott, die Leitung ist tot — durchschnitten!«
«Dieser Hundesohn kennt sich hier aus!«
«Ich auch. Bleib so ruhig, wie du kannst. Ich bin gleich wieder da. «Es gab wieder einen Schrei, nicht so laut, abrupt, eher ein Luftausstoßen als ein Schrei.
«Möge Gott mir verzeihen«, murmelte der alte Mann unter Schmerzen.»Es ist nur noch ein Bruder übrig.«
«Wenn jemand um Verzeihung bitten müßte, dann ich«, rief Borowski mit halb erstickter Stimme.»Verdammt noch mal! Ich schwöre dir, Kaktus, ich dachte niemals, nicht einmal im Traum daran, daß so etwas passieren könnte.«
«Natürlich nicht. Ich kenne dich seit langem, Bruder, und ich habe niemals gehört, daß jemand für dich ein Risiko eingehen sollte… Es ist immer andersherum gewesen.«
«Ich ziehe dich dort hinüber«, unterbrach Jason. Er zog den Teppich rechts neben den Tisch, damit Kaktus mit der linken Hand den Alarmknopf erreichen konnte.»Wenn du etwas hörst oder siehst oder fühlst, drück drauf.«
«Wo gehst du hin? Ich meine, wie…?
Borowski kroch über den Boden zu der zerschmetterten Tür, hechtete hindurch und rannte ins Wohnzimmer. Am Ende war eine Glastür, die in einen Patio führte. Er erinnerte sich, weiße, schmiedeeiserne Gartenstühle am Südende des Hauses gesehen zu haben, als er bei den Wächtern war. Er drückte den Türgriff und schlüpfte hinaus. Er schloß die Tür wieder und griff nach seiner Automatic. Am Rande des Rasens kroch er durchs Gebüsch. Er mußte sich beeilen. Nicht nur war ein drittes Leben in Gefahr, ein Mensch, der nichts mit dem allem zu tun hatte, sondern da war auch ein Killer, ein direkter Draht zu den Verbrechern der neuen Medusa, und diese Verbrecher waren ein Köder für den Schakal! Er brauchte eine Ablenkung, einen Magneten, eine Falle… die Leuchtkugeln, Teil der Ausrüstung, die er in Manassas eingekauft hatte. Die beiden» NothilfeKerzen «steckten in seiner linken Gesäßtasche, jede zwanzig Zentimeter lang und hell genug, um kilometerweit gesehen zu werden. Gleichzeitig angezündet, aber getrennt geworfen, würden sie den ganzen Landsitz von Swayne in Flutlicht tauchen. Eine auf die südliche Ausfahrt, die andere in den Zwinger, wodurch die betäubten Hunde wahrscheinlich aufwachen und in Rage versetzt werden würden. Los! Beeil dich!
Jason kroch über den Rasen, wobei seine Augen überall hinschossen. Er fragte sich, wo der herumschleichende Killer sein könnte und wie der unschuldige Kerl, den Kaktus angeheuert hatte, ihm entkommen wollte. Der eine war erfahren, der andere nicht, und Borowski konnte nicht zulassen, daß sein Leben auch noch draufging.
Da passierte es! Er war entdeckt worden! Zwei Einschläge auf beiden Seiten, Kugeln aus einer gedämpften Pistole, die durch die Luft zischten. Er erreichte den südlichen Arm der asphaltierten Straße, raste hinüber und hechtete ins Gebüsch. Er riß eine Rakete aus seiner Tasche legte die Waffe hin, entzündete sein Feuerzeug und hielt es an die Zündschnur. Er warf die zischende Rakete nach rechts. Sie landete auf der Straße. In wenigen Sekunden würde sie ein blendendes Licht ausspucken. Er rannte im Schutz der Pinien nach links hinter das Haus, das Feuerzeug und die Leuchtrakete in der einen, die Automatic in der anderen Hand. Er war neben dem Zwinger, als die erste Rakete mit bläulichweißem Licht explodierte. Er entzündete die zweite und warf sie fünfzehn Meter weit vor die Zwinger. Und wartete. Die Rakete explodierte, und zwei Bälle blendenden Lichts erhellten das Haus und das Gelände an der Südseite. Drei der Hunde begannen zu winseln, machten dann schwache Versuche zu bellen, bald würde man ihre Wut nicht mehr überhören können. Ein Schatten! An der Westwand des weißen Hauses — die Figur sauste schutzsuchend ins Gebüsch, kroch hinein und war dann ein unbeweglicher, aber leicht sich abhebender Teil des Blätter-Schattens. War es der Killer oder das Ziel des Killers, der letzte von Kaktus rekrutierten Brüdern?
Es gab eine Möglichkeit, das herauszufinden, und wenn es ersterer war und ein guter Schütze, dann war es nicht die beste Taktik, aber die schnellste.