Die karibische Sonne färbte sich orangerot und näherte sich langsam dem Wasserspiegel am Horizont. Bald würden die Schatten der Dämmerung Montserrat und die äußeren Inseln erreichen. Und kurz darauf würde es völlig dunkel sein. Der Schakal schätzte die Nacht — wie das Chamäleon.
«Gibt es irgend etwas?«fragte Borowski über Funk.
«Rien, monsieur.«
«Johnny?«
«Ich bin oben auf dem Dach mit sechs Scouts an allen Ecken… Nichts.«
«Was ist mit dem Dinner, der Party heute abend?«
«Unser Meteorologe ist vor zehn Minuten mit dem Schiff von Plymouth angekommen. Er hat Angst vorm Fliegen… Und Angus hat einen Scheck über zehntausend Dollar ans Schwarze Brett genagelt, auf dein nur noch Name und Unterschrift fehlen. Scotty hatte recht, alle sieben Pärchen werden dasein. Nach der gebotenen Schweigeminute wird niemand mehr an das Geschehene denken.«»Ich gehe noch mal rauf zur Kapelle. Ende.«»Schön zu hören… Ein Reiseunternehmen aus New York hat mal gesagt, die Kapelle sei eine Sehenswürdigkeit. Hab dann aber nie mehr was von ihnen gehört. Melde dich, David.«»Tu ich, Johnny.«
Der Pfad durch den Wald wurde immer dunkler, die hohen Palmen und das dichte Gebüsch unterstützten die hereinbrechende Nacht. Jason wollte gerade schon umdrehen, um sich noch eine Taschenlampe zu besorgen, als plötzlich, wohl photoelektrisch ausgelöst, blaue und rote Lichtkegel vom Boden aus die Palmen beleuchteten. Borowski stand wie in einem hellen Tunnel, in Technicolor-Farben aus dem Dschungel geschnitten. Für einen Moment war er völlig perplex — ein bewegliches, beleuchtetes Ziel. Schnell flüchtete er ins Unterholz am Rande des Flutlichts. Die Stacheln der wilden Büsche malträtierten seine nackten Beine. Dennoch drang er noch tiefer ins Gebüsch ein und nahm dann die Richtung zur Kapelle wieder auf. Er kam nur mühsam voran, aber sein Instinkt sagte ihm, daß er das Licht meiden müsse.
Da! Ein dumpfes Geräusch! Wie ein Aufprall. Das gehörte nicht zu den gewohnten Geräuschen des Waldes. Dann ein Stöhnen, das lauter wurde, dann wieder aufhörte. Abgewürgt…unterdrückt? Jason kroch weiter durch das hinderliche Buschwerk, Meter um Meter, bis er die dicke Holztür der Kapelle sehen konnte. Sie stand einen Spalt offen. Er sah weiches, flackerndes Licht elektrischer Kerzen und etwas weiter weg die blauen und roten Flutlichter.
Nachdenken. Sich erinnern! Nur einmal war er schon früher in der Kapelle gewesen. Er hatte John im Spaß beschimpft, daß er Geld für eine so nutzlose Sache ausgegeben hatte.
«Zumindest ist es kurios«, hatte St. Jacques gesagt.
«Ist es nicht, Bruder«, hatte Marie geantwortet.»Paßt nicht her. Du hast doch kein Kloster hier.«
«Nimm an, jemand bekommt schlechte Nachrichten…«
«Dann gib ihm besser einen Drink«, hatte David vorgeschlagen.
«Kommt herein. Die bunten Glasfenster zeigen die Symbole von fünf verschiedenen Religionen, einschließlich Shinto.«
«Verrate deiner Schwester lieber nicht, was das gekostet hat«, hatte Webb geflüstert.
Hatte die Kapelle einen zweiten Ausgang?… Nein. Es gab nur fünf oder sechs Bankreihen, ein Geländer vor einer Art Kanzel und naive, von einheimischen Künstlern gefertigte Fenster.
Jemand war dort drin! Ishmael? Ein Hotelgast? Jason griff in seine Brusttasche nach dem Miniaturfunkgerät, hielt es an die Lippen und sprach leise.
«Johnny?«
«Hier auf dem Dach.«
«Ich bin bei der Kapelle. Ich gehe jetzt rein.«
«Ist Ishmael dort?«
«Ich weiß nicht. Irgend jemand scheint aber drin zu sein.«
«Stimmt was nicht, Dave? Du klingst…«
«Alles in Ordnung«, unterbrach Borowski.»Ich wollte nur eine Kontrolle… Was ist hinter der Kapelle? Östlich davon.«
«Nur Wald.«
«Irgendein Pfad?«
«Es gab einen, vor ein paar Jahren. Er ist völlig überwuchert. Die Bauarbeiter haben ihn benutzt, um zum Wasser zu kommen… Warte noch, ich werde ein paar Wachen rüberschicken.«
«Nein! Wenn ich dich brauche, ruf ich dich. Ende. «Jason steckte das Gerät wieder ein, kroch näher an die Kapelle heran und beobachtete den Eingang.
Stille. Kein Geräusch, keine Bewegung, nichts als das flackernde Kerzenlicht. Borowski kroch noch näher, legte die Kamera und den Strohhut beiseite und öffnete die Tasche mit den Leuchtraketen. Er nahm eine heraus, steckte sie in den Gürtel und nahm die Automatic zur Hand. Aus der linken Brusttasche seines Guayabera-Hemdes holte er das Feuerzeug. Dann stand er auf und huschte zur Ecke des merkwürdigen Bauwerks. Leuchtraketen hatte er schon früher, lange vor Manassas benutzt. Er erinnerte sich, als er sich zentimeterweise um die Ecke in Richtung Eingang vorschob. Schon in Paris… vor dreizehn Jahren, auf dem Friedhof Rambouillet. Und Carlos… Er erreichte die angelehnte Tür und sah langsam, vorsichtig hinein.
Er schnappte nach Luft, sein Herz setzte aus. Das war nicht möglich! Es war zu scheußlich! Dann stieg Wut in ihm auf. Über einem Pult vor den Stuhlreihen hing kopfüber der junge Ishmael. Sein dunkles Gesicht blutig zerfetzt. Ein Schuldgefühl überwältigte Jason, plötzlich und niederschmetternd. Die Worte des alten Franzosen dröhnten in seinen Ohren: Andere werden sterben, unschuldige Menschen werden abgeschlachtet werden.
Abgeschlachtet! Ein Kind ist abgeschlachtet worden! Ein vielversprechendes Leben wurde einfach ausgelöscht! Oh, Gott, was habe ich getan?… Was kann ich tun?
Schweiß strömte über sein Gesicht, er konnte kaum noch etwas sehen. Borowski riß die Leuchtrakete aus der Tasche, griff nach dem Feuerzeug und hielt es zitternd an den roten Faden. Ein weißer Feuerstrahl zischte heraus, wie hundert Schlangen. Jason warf die Rakete weit in die Kapelle, sprang hinterher, drehte sich einmal um die eigene Achse und donnerte die Tür hinter sich zu. Er hechtete hinter die letzte Stuhlreihe, duckte sich, zog das Funkgerät aus der Tasche und drückte auf den Knopf.
«Johnny, die Kapelle. Laß sie umstellen!«Die Automatic in der Hand, kroch er auf die andere Seite, während die zischende Rakete immer noch Lichtbündel zu den farbigen Fenstern hochschoß. Borowskis Augen suchten fieberhaft alles ab. Nur einen Teil konnte er nicht einsehen. Da war das Pult mit dem Körper des Jungen, den er in den Tod geschickt hatte… Es stand auf einer erhöhten Plattform, rechts und links der Plattform waren schmale, verhängte Bogengänge, wie kleine Bühneneingänge, die in die winzigen Hügel der Kapelle führten. Trotz seiner Angst spürte Jason Borowski, wie ein tiefes Gefühl der Befriedigung in ihm aufstieg, eine beinahe todessüchtige lustvolle Erregung. Er würde das tödliche Spiel gewinnen. Carlos hatte eine ausgeklügelte Falle gestellt, und das Chamäleon, Medusas Delta, hatte sie umgedreht. In einem dieser verhängten Bogengänge lauerte der Schakal.
Borowski kam auf die Füße. Den Rücken an die Wand gepreßt, hob er die Waffe. Er feuerte zweimal in den linken Bogengang. Der Vorhang flatterte bei jedem Schuß. Dann sprang er wieder hinter die letzte Stuhlreihe und kroch auf die andere Seite. Er kniete und feuerte zweimal auch in den rechten Bogengang.
Ein Mensch stürzte durch den Vorhang und hielt sich im Fallen daran fest. Der dunkelrote Stoff riß ab und wickelte sich um seine Schultern.
Borowski stürzte nach vorne, schrie» Carlos!«, feuerte wieder und wieder, bis das Magazin seiner Automatic leer war. Plötzlich zerriß eine gräßliche Detonation die Luft, und eines der farbigen Fenster zerbarst. Die bunten Glasscherben fielen splitternd zu Boden, und ein Mann stand im Zentrum der Öffnung über dem zischenden, blendenden Licht.
«Du hast keine Kugel mehr«, sagte Carlos zu dem vor Entsetzen gelähmten Mann unter ihm.»Dreizehn Jahre, Delta, dreizehn widerliche Jahre. Aber jetzt werden sie wissen, wer gewonnen hat.«