Und Prefontaine, der kontrollierte Alkoholiker und Straßenanwalt vom Harvard-Square, hatte seinen Fall gefunden. Einen Fall, den er nicht bloß annahm, um überleben zu können — und das war an sich schon bemerkenswert. Randolph Gates, Lord Randolph of Gates, der Dandy Randy der Gerichtshöfe, Liebling der Eliten, war in Wirklichkeit ein Schurke, ein Todesengel. Die Zusammenhänge wurden allmählich immer deutlicher, unter anderem auch, weil Prefontaines Verstand zunehmend klarer wurde. Er hatte nämlich beschlossen, künftig auf die morgendlichen vier Wodkas zu verzichten. Gates hatte die entscheidende Information geliefert, die den Killern den Weg nach Tranquility Island gezeigt hatte. Warum?… Doch das war eigentlich, selbst juristisch, irrelevant. Die Tatsache, daß er den Ort verraten hatte und daß er wußte, was die Killer dort wollten, war es nicht. Das war Beihilfe zum Mord, zu mehrfachem Mord. Aber er hatte Dandy Randys Männlichkeit im Schraubstock, und den würde er zudrehen, so lange, bis er die Information hatte, die den Webbs helfen würde, besonders der wunderbaren kastanienbraunen Frau, der er, bei Gott, gerne fünfzig Jahre früher begegnet wäre.
Prefontaine flog noch am selben Morgen zurück nach Boston, nicht ohne John St. Jacques vorher zu fragen, ob er eines Tages wiederkommen dürfte. Vielleicht auch ohne im voraus bezahlte Reservierung…?
«Richter, mein Haus ist Ihr Haus«, war die Antwort.»Vielleicht kann ich mir Ihr Entgegenkommen sogar noch verdienen.«
Albert Armbruster, Vorsitzender der
Bundeshandelskommission, stand vor der steilen Treppe zu seinem Haus in Georgetown.»Sprechen Sie morgen früh erst mit dem Büro«, sagte er zu seinem Chauffeur, der ihn gerade nach Hause gefahren hatte.»Wie Sie wissen, fühle ich mich zur Zeit nicht gut.«
«Ja, Sir. Brauchen Sie Hilfe, Sir?«
«Verflucht, nein. Hauen Sie ab.«
«Ja, Sir. «Der Chauffeur setzte sich hinter sein Steuer. Er ließ den Motor aufheulen, als er die Straße hinunterjagte — was nicht als Höflichkeitsbeweis gedacht war.
Der übergewichtige Armbruster kletterte mühsam die Stufen hinauf. Er fluchte, als er die Silhouette seiner Frau hinter der Glastür des viktorianischen Eingangs sah.»Scheiß-Kläffer«, murmelte er, als er fast oben angelangt war. Gleich würde er seinem langjährigen Gegner wieder gegenüberstehen. Sie waren seit über dreißig Jahren verheiratet.
Da explodierte irgendwo in der Dunkelheit ein Schuß. Armbruster warf die Arme nach oben, seine Handgelenke gebogen, als wollten die Finger das Chaos im Körper lokalisieren. Es war zu spät. Der Vorsitzende der Bundeshandelskommission kollerte die Steinsrufen hinunter und schlug mit seinem ganzen Gewicht auf das Pflaster.
Borowski zog sich die französische Leinenhose an, schlüpfte in ein kurzärmeliges Hemd und in die Safari-Jacke, steckte Geld, Waffe und alle seine Ausweise — echte und falsche — in seine Taschen, stopfte sein Bett mit Kissen aus und hängte seine Reisekleidung deutlich sichtbar über den Stuhl. Dann verließ er seinen Stützpunkt. Er schlenderte lässig am Empfangstisch vorbei, aber sobald er auf der Straße war, rannte er zum nächsten Telefonhäuschen. Er wählte die Nummer von Bernardines Wohnung.
«Hier ist Simon«, sagte er.
«Dachte ich mir«, antwortete der Franzose.»Besser gesagt, ich habe es gehofft. Ich habe gerade mit Alex gesprochen und ihm gesagt, er soll mir nicht verraten, wo Sie sind. Was ich nicht weiß, kann auch keiner von nur erfahren… Trotzdem würde ich, wenn ich Sie wäre, woanders hingehen, zumindest für die Nacht. Sie könnten am Flughafen gesehen worden sein.«
«Und Sie?«
«Ich bin ein canard.«
«Eine Ente?«
«Von der sitzenden Art. Meine Wohnung wird beschattet. Vielleicht bekomme ich Besuch. Das würde passen, n'est-ce pas?«
«Sie haben Ihrem Büro nichts gesagt über…«
«Über Sie?«unterbrach Bernardine.»Wie könnte ich, Monsieur?! Wir kennen uns überhaupt nicht. Meine Schutzengel vom Bureau glauben, ich hätte einen Drohanruf von einem alten psychopathischen Gegner bekommen…! Sie habe ihn allerdings schon vor Jahren nach Übersee verfrachtet und nur die Akte niemals geschlossen.«
«Können Sie mir das über Ihr Telefon sagen?«
«Ich dachte, ich hätte gesagt, daß es ein einmaliges Instrument ist.«
«Haben Sie.«
«Es kann nicht angezapft werden… Sie brauchen Ruhe, Monsieur. Dringend. Suchen Sie sich ein Bett, dabei kann ich Ihnen nicht helfen.«
«Ruhe ist eine Waffe«, zitierte Jason eine lebenswichtige Wahrheit in einer Welt, die er verabscheute, sogar eine überlebenswichtige.
«Wie bitte?«
«Nichts. Ich suche mir also ein Bett und rufe Sie morgen an.«
«Dann bis morgen. Bonne chance, man ami. Für uns beide.«
Er fand ein Zimmer im Avenir, einem billigen Hotel in der Rue Gay-Lussac. Er trug sich unter einem falschen Namen ein, den er sofort wieder vergaß, stieg zu seinem Zimmer hoch, zog sich aus und fiel ins Bett.»Ruhe ist eine Waffe«, sagte er laut zu sich selbst und starrte auf die flackernden Reflexe der Straße an der Decke. Ob man in einer Höhle im Gebirge oder in einem Reisfeld im Mekong-Delta Schlaf fand, das spielte keine Rolle. Ruhe war eine Waffe, manchmal mächtiger als eine großkalibrige Kanone. Das war eine Lektion, die ihm D'Anjou eingetrichtert hatte, der Mann, der in einem Wald bei Peking sein Leben gelassen hatte, um Jason Borowski zu retten. Ruhe ist eine Waffe. Er berührte die Bandage um seinen Hals, ohne sie wirklich zu fühlen, dann kam der Schlaf.
Er wachte langsam auf, vorsichtig. Das Geräusch des Straßenverkehrs drang durchs Fenster, metallisches Hupen, unregelmäßiges Aufheulen wütender Motoren… Ein normaler Morgen in den engen Straßen von Paris. Mit steifem Hals schwang er die Beine aus dem viel zu weichen Bett und sah auf die Uhr. Er erschrak. Es war 10.07 Uhr — Pariser Zeit. Er hatte beinahe elf Stunden geschlafen. Sein Magen knurrte vor Hunger.
Das Essen mußte allerdings warten. Er wollte vorher Bernardine anrufen und dann das Hotel Pont-Royal daraufhin untersuchen, ob es sicher genug war. Er stand vollends auf. Einen Moment lang fühlten sich Beine und Füße taub an. Er brauchte eine heiße Dusche, die er im Avenir nicht bekommen konnte. Und ein paar Gymnastik-Übungen — noch vor ein paar Jahren hätte er die nicht nötig gehabt. Er zog Bernardines Karte aus seiner Hose und ging zum Telefon neben dem Bett. Dann wählte er die Nummer.
«Le canard hatte keinen Besuch«, sagte der Veteran.»Nicht den Hauch eines Jägers, was, wie ich annehme, gute Nachrichten sind.«
«Nicht, solange wir Panov nicht gefunden haben. Diese Bastarde!«
«Ja, damit müssen wir immer rechnen. Das ist der schlimmste Aspekt unserer Arbeit.«
«Verdammt, ich kann über einen Mann wie Panov nicht mit einem >Damit muß man immer rechnen< hinweggehen!«
«Das verlange ich auch nicht von Ihnen. Ich habe nur gesagt, wie es ist. Ihre Gefühle in Ehren, aber sie ändern nicht die Realität. Ich wollte Sie nicht verletzen.«
«Und ich wollte Ihnen nicht über den Mund fahren. Tut mir leid. Es ist nur, er ist ein ganz besonderer Mensch.«
«Ich verstehe… Was sind Ihre Pläne? Was brauchen Sie?«
«Das weiß ich noch nicht«, antwortete Borowski.»Ich hole den Wagen, und eine Stunde später oder so weiß ich mehr. Werden Sie zu Hause oder im Bureau sein?«
«Bis ich von Ihnen höre, werde ich in meiner Wohnung bleiben, an meinem einmaligen Telefon. Unter diesen Umständen ziehe ich es vor, daß Sie mich nicht im Bureau anrufen.«
«Ah, ja?«
«Ich kenne nicht mehr alle im Deuxieme, und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste… Bis später, man ami.«