Ich bin soweit, dachte Borowski, als er sich im Spiegel studierte. Er war zufrieden mit dem, was er sah. Die vergangenen drei Stunden hatte er damit zugebracht, sich auf seine Fahrt nach Argenteuil vorzubereiten, zum Le Coeur du Soldat, dem Übermittlungszentrum für eine» Amsel«, für
Carlos, den Schakal. Das Chamäleon hatte sich dem Milieu angeglichen, das er zu betreten im Begriff stand. Mit der Kleidung war es einfach gewesen, mit Gesicht und Körper weniger. Als erstes war er in einige Secondhandshops am Montmartre gegangen, wo er abgetragene Hosen und ein altes französisches Armeehemd und das ebenfalls verschlissene Ordensband eines verstorbenen Veteranen gefunden hatte. Als nächstes hatte er sich die Haare färben und den Bart einen Tag wachsen lassen, darüber hinaus hatte er einen zweiten Verband angelegt, und zwar um das rechte Knie, das er so fest umwickelt hatte, daß er das Hinken nicht vergaß, was er schnell perfektioniert hatte. Haare und Augenbrauen waren jetzt mattrot, schmutzig und ungekämmt der neuen Umgebung angepaßt, das Hotel billig und in Montparnasse, wo man am Empfangstisch so wenig Kontakt wie möglich mit der Kundschaft suchte.
Sein Nacken war kein wirklich hinderlicher Faktor mehr — zum Teil hatte er sich an die steifen, begrenzten Bewegungen gewöhnt, darüber hinaus war der Heilungsprozeß ein gutes Stück weiter fortgeschritten. Bezüglich seiner gegenwärtigen Erscheinung war die leichte Steifheit eher ein Vorteiclass="underline" Ein verbitterter, verwundeter Veteran, ein vergessener Sohn Frankreichs mußte heftig bedrängt werden, um seine doppelte Unbeweglichkeit zu vergessen. Jason steckte Bernardines Automatic in seine Hosentasche, überprüfte sein Geld, die Autoschlüssel und sein Jagdmesser mit Scheide, das er in einem Sportgeschäft gekauft hatte und in sein Hemd steckte. Er hinkte zur Tür des kleinen, schmutzigen, bedrückenden Zimmers. Sein nächstes Ziel war der Capucines und ein nicht klassifizierbarer Peugeot in einer Tiefgarage. Er war soweit.
Er wußte, daß er ein paar Blocks gehen mußte, bevor er einen Taxistand finden würde. Taxis wurden in diesem Viertel kaum gebraucht. Um so merkwürdiger war das Gedränge an einem Kiosk an der nächsten Straßenecke. Leute schrien, viele fuchtelten mit Papieren in den Händen herum, schrien mit wütender Stimme. Instinktiv beschleunigte er den Schritt, erreichte den Stand, warf eine Münze hin und griff sich eine Zeitung.
Ihm stockte der Atem, als er versuchte, den Schock zu unterdrücken: Teagarten ermordet! Der Mörder Jason Borowski! Jason Borowski! Wahnsinn! Was war geschehen? War es ein Wiederauferstehen von Hongkong und Macao? Entschwand ihm auch das, was von seinem Gedächtnis übriggeblieben war? Befand er sich in einem Alptraum, der Wirklichkeit wurde, reale Dimensionen annahm? Wandelten sich die Schrecken eines furchtbaren Schlafs, einer Terrorphantasie in schreckliche Wirklichkeit? Er löste sich aus der Menge, taumelte über das Pflaster und lehnte sich gegen die Steinmauer eines Gebäudes, schnappte nach Luft und versuchte verzweifelt, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Alex! Ein Telefon!
«Was ist geschehen?«schrie er in den Hörer.
«Komm schon, bleib ruhig!«sagte Conklin mit monotoner Stimme.»Hör mir zu. Ich muß genau wissen, wo du bist. Bernardine wird dich abholen und wegbringen. Er wird alle Vorbereitungen treffen und dich in eine Concorde nach New York setzen.«
«Warte einen Moment, nur einen Moment! Es war der Schakal, nicht wahr?«
«Nach allem, was uns gesagt wurde, war es ein Vertrag mit einer verrückten Jihad-Fraktion aus Beirut. Sie beanspruchen diesen Kill für sich. Der eigentliche Täter ist unwichtig. Das kann stimmen oder auch nicht. Zuerst habe ich es nicht geglaubt. Nicht nach DeSole und Armbruster, aber es gibt Indizien. Teagarten hat immer getönt, er wolle NATO-Truppen in den Libanon schicken und alle verdächtigen palästinensischen Enklaven dem Erdboden gleichmachen. Er ist schon öfter bedroht worden. Nur fällt es für mich zu auffallend mit der
Medusa-Connection zusammen. Doch um deine Frage zu beantworten: Natürlich war es der Schakal.«
«Aber er hat es mir zugeschoben, Carlos hat es mir zugeschoben!«
«Er ist ein einfallsreiches Arschloch, das muß ich sagen. Du jagst ihn, und er benutzt einen Auftrag, um dich in Paris auf Eis zu legen.«
«Dann drehen wir den Spieß um!«
«Wovon sprichst du? Du mußt raus da!«
«Kommt nicht in Frage. Während er denkt, ich renne davon, verstecke ich mich und weiche aus. Ich steuere direkt in seine Höhle.«
«Du spinnst! Du kommst raus da, solange es noch geht!«
«Nein, ich bleibe. Er glaubt, daß ich nach all den Jahren in Panik gerate und dumme Züge mache — und davon habe ich, weiß Gott, schon auf Tranquility genug gemacht. So dumme, daß seine Armee alter Männer mich finden wird, wenn sie nur an den richtigen Orten sucht und weiß, wonach sie suchen muß. Mein Gott, er ist gut! Ich muß den Bastard aus der Ruhe bringen, damit er einen Fehler begeht. Ich kenne ihn, Alex, ich weiß, wie er denkt, und ich werde ihn ausstechen. Ich bleibe auf meinem Kurs, auch wenn es keine sichere Höhle mehr für mich gibt.«
«Höhle? Was für eine Höhle?«
«Nur so eine Redensart, vergiß es. Zumindest war ich schon vor den Nachrichten über Teagarten hier. Das ist gut.«
«Das ist nicht gut. Du bist eine Pflaume! Komm raus da!«
«Tut mir leid, heiliger Alex, genau hier werde ich bleiben. Ich verfolge den Schakal.«
«Gut, vielleicht wirst du vernünftig, wenn du folgendes hörst: Vor ein paar Stunden hab ich mit Marie gesprochen. Rate mal, was sie tut, du alternder Neandertaler? Sie fliegt nach Paris. Um dich zu finden.«
«Das kann sie nicht!«
«Das habe ich auch gesagt, aber sie hat nicht hören wollen. Sie sagte, sie kennt alle Orte, die du und sie benutzt haben, als ihr vor uns geflohen seid vor dreizehn Jahren. Und daß du sie wieder benutzen würdest.«
«Habe ich auch. Einige. Aber sie darf nicht herkommen!«
«Sag das ihr, nicht mir.«
«Gib mir die Nummer von Tranquility. Ich hatte Angst, sie anzurufen — um ehrlich zu sein, ich habe verteufelt versucht, sie und die Kinder aus meinem Denken zu verdrängen.«
Conklin nannte ihm die 809-Vorwahl, und schon warf Borowski den Hörer auf die Gabel.
Wie auf Kohlen durchlief Jason den Prozeß des Durchgebens von Bestimmungsort und Kreditkartennummer und das Piepen und Geklacker des Leitungsaufbaus nach Übersee. Dann endlich, nachdem er irgendeinem Idioten am Empfang von Tranquility die Meinung gesagt hatte, bekam er seinen Schwager an die Strippe.
«Hol Marie ans Telefon!«befahl er.
«David?«
«Ja… David. Hol Marie.«
«Kann ich nicht. Sie ist vor einer Stunde weg.«
«Wohin?«
«Hat sie mir nicht gesagt. Sie hat in Blackburne ein Flugzeug gechartert, aber sie hat mir nicht gesagt, zu welchem Flughafen sie wollte. Hier in der Nähe gibt es nur Antigua oder Martinique, aber sie könnte auch nach Saint Martin oder Puerto Rico geflogen sein. Sie ist auf dem Weg nach Paris.«
«Hättest du sie nicht aufhalten können?«»Himmel, glaubst du, ich hätte es nicht versucht, David?!«
«Hast du nicht daran gedacht, sie einzusperren?«
«Marie?«
«Ich verstehe, was du meinst… Sie kann nicht vor morgen früh hier sein, allerfrühestens.«
«Hast du die Nachrichten gehört?«schrie St. Jacques.»General Teagarten wurde ermordet, und sie sagen, es war Jason… «
«Oh, halt die Schnauze«, sagte Borowski, legte auf und verließ die Telefonzelle. Er ging die Straße hinunter und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.