«Was?«schrie der Wächter.
«Eiter. Eitertaschen überall. Oben und unten. Das schlimmste Anzeichen.«
«Oh, Jesses!«Der Wagen schlingerte wie wild, aber damit nicht genug — ein großer Baum, direkt vor ihnen, auf der linken Seite der verlassenen Straße! Morris Panov ließ seine Arme auf das Steuer fallen und schob sich aus seinem Sitz hoch, als er es nach links drehte. Dann, in letzter Sekunde, bevor der Wagen den Baum traf, warf er sich nach rechts in eine fötale Position, um sich zu schützen.
Der Aufprall war enorm. Zerbrochenes Glas und zerschmettertes Metall, begleitet vom lauten Zischen — überall Dampf, Qualm aus zerbrochenen Zylindern und unter dem Wagen Flammen, die sich im ausgelaufenen Öl ausbreiteten und bald den Tank erreichen würden. Der Wächter stöhnte, halb bei Bewußtsein, mit blutendem Gesicht. Panov zog ihn aus dem Wrack und so weit weg, wie er konnte, bevor die Erschöpfung ihn übermannte. Und dann explodierte der Wagen. Im feuchten Gras ging sein Atem allmählich wieder ruhiger, aber seine Angst war immer noch da. Er entledigte sich der lose gebundenen Fesseln und entfernte die Glassplitter aus dem Gesicht des Chauffeurs, sah nach gebrochenen Knochen, ja, der rechte Arm und das linke Bein, und auf Briefpapier von einem Hotel, von dem Panov nie gehört hatte, das er in der Tasche des Capos gefunden hatte, schrieb er seine Diagnose auf. Unter den Dingen, die er mitnahm, war auch eine Pistole — welche Marke, das wußte er nicht —, aber sie war schwer und zu groß für seine Tasche, weshalb er sie in den Gürtel steckte.
Genug. Hippokrates hatte seine Grenzen. Panov durchsuchte die Kleider des Wächters, erstaunt, wieviel Geld er fand — an die sechstausend Dollar —, und über die verschiedenen Führerscheine — fünf aus fünf verschiedenen Staaten. Er nahm das Geld und die Führerscheine, um sie Alex Conklin zu übergeben, doch ansonsten ließ er die Taschen des Capo unberührt. Es gab Fotos von seiner Familie und seinen Kindern, Großenkeln und verschiedenen Verwandten und darunter auch das Foto eines jungen Chirurgen, den er auf die Uni geschickt hatte. Ciao, amico, dachte Mo, als er sich aufrappelte, seine Kleidung glattstrich, zur Straße hinüberging und versuchte, so respektierlich wie möglich auszusehen.
Als er auf dem hatten Asphalt stand, sagte ihm sein gesunder Menschenverstand, daß er Richtung Norden gehen müsse, in die Richtung, in die der Wagen gefahren war, weil nach Süden zu gehen nicht nur witzlos, sondern vielleicht sogar gefährlich sein konnte. Plötzlich brach es über ihn herein.
Gütiger Gott! Habe ich getan, was ich gerade tat?
Er begann zu zittern, und seine psychiatrisch geschulte Hälfte sagte ihm, daß es sich um einen posttraumatischen Streß handelte.
Scheiße, du warst es nicht!
Er begann zu laufen, und er lief immer weiter und lief und lief. Die Straße war nicht nur abgelegen, sie schien durchs Nirgendwo zu verlaufen. Es gab keine Anzeichen von Zivilisation, nicht einen Wagen, nicht ein Haus — nicht einmal die Ruinen eines alten Bauernhauses oder eines primitiven Steinwalls, der zumindest darauf hingedeutet hätte, daß irgendwann mal menschliche Wesen in der Gegend gewesen waren. Kilometer um Kilometer brachte er hinter sich, und Mo hatte gegen den Effekt der durch die Drogen bewirkten Erschöpfung zu kämpfen. Wie lange ist es schon her? Er hatte keine Ahnung, weder von der Stunde noch von der Zeit, die seit seiner Gefangennahme vor dem Walter-Reed-Krankenhaus vergangen war. Er mußte ein Telefon finden. Er mußte Alex Conklin erreichen! Irgend etwas mußte passieren. Bald.
Tat es auch.
Er hörte das Herannahen eines Motors und drehte sich um. Ein roter Wagen kam von Süden herangerast — der Fahrer mußte einen Bleifuß haben. Er begann wild mit den Armen zu winken, Gesten der Hilflosigkeit und des Appells. Nutzlos. Der Wagen donnerte an ihm vorbei, nur undeutlich zu erkennen… Dann war zu seiner freudigen Überraschung die Luft von quietschenden Bremsen und Staub erfüllt. Der Wagen hielt! Er lief los, als der Wagen mit aufheulenden Reifen zurücksetzte. Komischerweise erinnerte er sich in diesem Moment an die Worte, die ihm seine Mutter unablässig wiederholt hatte, als er noch ein Junge in der Bronx gewesen war:»Sage immer die Wahrheit, Morris. Es ist der Schild, den Gott uns gab, um uns auf dem rechten Weg zu halten.«
Panov hielt sich nicht immer an diese Ermahnung, aber zu Zeiten hatte er das Gefühl, daß sie einen sozial interaktiven Wert hatte. Außer Atem kam er an dem geöffneten Fenster des roten Wagens an. Er sah die weibliche Fahrerin, eine Platinblonde Mitte dreißig mit stark geschminktem Gesicht und großen Brüsten, die ein Dekollete sehen ließ, das mehr zu einem drittklassigen Film als zu einer abgelegenen Landstraße in Maryland paßte. Die Worte seiner Mutter im Ohr, sagte er:»Ich bin mir darüber im klaren, daß ich ziemlich schäbig aussehe, Madame, aber ich versichere Ihnen, daß es nur der äußerliche Eindruck ist. Ich bin Arzt und hatte einen Unfall.«
«Steigen Sie ein, um Himmels willen!«
«Ich danke Ihnen sehr. «Mo hatte kaum die Wagentür geschlossen, als die Frau schon den Gang einlegte und die Maschine aufs äußerste hochjagte.»Sie sind offenbar sehr in Eile«, begann Panov.
«Das wären Sie auch, mein Freund, wenn Sie an meiner Stelle wären. Ich habe dort hinten einen Mann, der versucht, seine Karre in Gang zu bringen, und hinter meinem Arsch her ist!«
«Wirklich?«
«So ein verdammter Kerl! Drei Wochen im Monat fährt er über Land und vögelt, was ihm unterkommt, und macht dann einen Zirkus, wenn er herausfindet, daß auch ich ein bißchen Spaß hatte.«
«Tut mir leid.«
«Es wird Ihnen noch viel mehr leid tun, wenn er uns einholt.«
«Wie bitte?«
«Sind Sie wirklich Arzt?«
«Ja, bin ich.«
«Vielleicht können wir ein Geschäft miteinander machen.«
«Wie meinen Sie?«
«Können Sie eine Abtreibung machen?«
Morris Panov schloß die Augen.
Kapitel 22
Borowski lief beinahe eine Stunde lang durch Paris und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Schließlich stand er an der Seine an der Pont de Solferino, die zum Quai des Tuileries und den Gärten führt. Warum, warum, warum? Was dachte sich Marie nur bei der Sache? Nach Paris zu fliegen! Es war nicht einfach dumm, es war völlig idiotisch — aber seine Frau war weder ein Dummkopf noch ein Idiot. Sie war eine großartige Frau mit einem schnellen, analytischen Verstand. Und gerade deswegen war ihre Entscheidung so unverständlich. Was mochte sie denn glauben, ausrichten zu können? Sie mußte doch wissen, daß er viel sicherer war, wenn er allein arbeitete. Das Risiko würde für sie beide doppelt so groß sein, und das mußte sie doch begreifen. Zahlen und Projektionen waren ihr Beruf. Warum also?
Es gab nur eine denkbare Antwort, und die machte ihn wütend. Sie glaubte, daß er wieder halb durchdrehen könnte wie damals in Hongkong, wo sie allein ihn wieder zu sich gebracht hatte, zurück in die Realität, seine so einmalige Realität aus erschreckenden halben Wahrheiten und nur vereinzelten Erinnerungsstücken, episodischen Augenblicken, mit denen sie jeden Tag ihres gemeinsamen Lebens zurechtkommen mußte. Gott, wie er sie anbetete, wie er sie liebte! Und die Tatsache, daß sie diese dumme, unhaltbare Entscheidung getroffen hatte, machte seine Liebe zu ihr noch stärker, weil sie so aufopfernd, so wahnsinnig selbstlos war. Im Fernen Osten hatte es Momente gegeben, wo er seinen eigenen Tod wünschte, nur um das Schuldgefühl auszulöschen, das er fühlte, weil er sie in so gefährliche — unhaltbare? — Situationen brachte. Diese Schuld bestand immer noch, aber da war mittlerweile weit mehr — die Kinder. Dieses Krebsgeschwür, der Schakal, mußte aus ihrer aller Leben beseitigt werden. Konnte sie das nicht begreifen und