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Nach ihrer Ankunft vor der Klinik Eurocenter Bio-I blieb Annaka noch einige Zeit im Taxi sitzen, während der Fahrpreisanzeiger weitertickte. Stepan hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie in die Endphase des Unternehmens eintraten. Jede Entscheidung, die sie trafen, jeder Schachzug, den sie machten, war ungeheuer wichtig. Jeder Fehler konnte jetzt eine Katastrophe auslösen. Bourne oder Chan. Sie wusste nicht, wer bedrohlicher war, wer die größere Gefahr verkörperte. Bourne war der

Stabilere von den beiden, aber Chan kannte keinerlei Schuldgefühle. Seine Ähnlichkeit mit ihr war eine Ironie des Schicksals, die sie auf keinen Fall ignorieren durfte.

Und trotzdem war ihr in letzter Zeit aufgefallen, dass es zwischen ihnen größere Unterschiede gab, als sie früher angenommen hätte. Zum einen hatte er’s nicht über sich gebracht, Jason Bourne zu liquidieren, obwohl er behauptet hatte, das sei sein sehnlichster Wunsch. Und zum anderen hatte er sie ebenso verblüfft, als er in ihrem Skoda schwach geworden war und sich über ihren Nacken gebeugt hatte, um ihn zu küssen.

Seit sie ihn damals verlassen hatte, hatte sie sich gefragt, ob er sie vielleicht wirklich geliebt hatte. Jetzt wusste sie’s. Chan konnte Gefühle empfinden; war der Anreiz stark genug, konnte er emotionale Bindungen entwickeln. Das hätte sie ihm ehrlich gesagt nicht zugetraut — nicht angesichts seiner Vergangenheit.

«Fräulein?«Die Stimme des Taxifahrers störte ihre Überlegungen.»Warten Sie hier auf jemand? Oder soll ich Sie woanders hinfahren?«

Annaka beugte sich nach vorn und drückte ihm ein paar Geldscheine in die Hand.»Danke, ich steige hier aus.«

Trotzdem blieb sie noch sitzen, sah sich um und fragte sich, wo Kevin McColl sein mochte. Stepan, der ungefährdet in seinem Büro in der Humanistas-Zentrale saß, hatte gut reden, wenn er sie aufforderte, sich keine Sorgen wegen des CIA-Agenten zu machen. Aber sie hatte es im Einsatz mit einem fähigen und gefährlichen Attentäter und dem schwer verwundeten Mann zu tun, den zu liquidieren er entschlossen war. Sobald die Knallerei anfing, würde sie direkt in der Schusslinie stehen.

Als sie schließlich ausstieg, veranlasste ihre Unruhe sie dazu, sich angstvoll nach dem klapprigen alten Opel umzusehen, bevor sie sich zusammenriss und mit irritiertem Kopfschütteln das Klinikfoyer betrat.

Drinnen fand sie alles genauso vor, wie Bourne es ihr beschrieben hatte. Sie fragte sich, wie er diese Informationen in so erstaunlich kurzer Zeit hatte beschaffen können. Eines musste man Bourne lassen: In dieser Hinsicht war er ein Meister.

Nachdem sie den Metalldetektor passiert hatte, wurde sie angehalten und gebeten, ihre Umhängetasche zu öffnen, damit ein Sicherheitsbeamter einen Blick hineinwerfen konnte. Sie hielt sich peinlich genau an Bournes Anweisungen, trat an die mit Marmor verkleidete Rezeption und lächelte einer der drei Empfangsdamen zu, die gerade lange genug aufsah, um ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen.

«Mein Name ist Annaka Vadas«, sagte sie.»Ich warte auf einen Bekannten.«

Die Empfangsdame nickte und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. Ihre beiden Kolleginnen telefonierten oder gaben vor Bildschirmen Daten ein. Dann klingelte ein weiteres Telefon, und die Frau, die Annaka zugelächelt hatte, nahm den Hörer ab, sprach kurz mit jemandem und winkte sie dann zu ihrer Verblüffung zu sich heran.

Als Annaka wieder an die Theke trat, sagte die Empfangsdame:»Frau Vadas, Dr. Morintz erwartet Sie. «Nach einem flüchtigen Blick auf ihren Personalausweis gab sie ihr einen weißen Besucherausweis.»Den tragen Sie bitte ständig, Frau Vadas. Der Doktor erwartet Sie in seinem Labor.«

Sie erklärte ihr, wie sie gehen musste, und Annaka folgte noch immer staunend einem Korridor. An der ersten Einmündung bog sie links ab und wäre fast mit einem Mann in einem weißen Labormantel zusammengestoßen.

«Oh, Entschuldigung! Ich habe…«Sie sah auf und blickte in Jason Bournes Gesicht. An seinem Labormantel hing ein auf den Namen Dr. Lenz Morintz ausgestellter grüner Ausweis. Annaka begann zu lachen.»Oh, ich verstehe, freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Dr. Morintz. «Sie kniff die Augen zusammen,»Auch wenn Sie Ihrem Foto nicht besonders ähnlich sehen.«

«Du kennst ja diese billigen Kameras«, sagte Bourne, fasste sie am Ellbogen und führte sie zu der Ecke zurück, um die sie gerade gekommen war.»Auf diesen Fotos sieht man immer aus wie ein Ölgötze. «Er spähte um die Ecke.»Ah, da kommt die CIA, pünktlich nach Plan.«

Annaka beobachtete, wie Kevin McColl einer der Empfangsdamen seinen Dienstausweis vorlegte.»Wie hat er seinen Revolver durch den Metalldetektor gebracht?«

«Gar nicht«, sagte Bourne.»Weshalb hätte ich dich sonst herbestellt?«

Sie sah ihn verblüfft und bewundernd an.»Eine Falle! McColl ist unbewaffnet hier. «Er war wirklich verdammt clever, und diese Erkenntnis machte sie ein wenig besorgt. Hoffentlich wusste Stepan, was er tat.

«Hör zu, ich habe rausbekommen, dass Peter Sido, Schiffers ehemaliger Partner, hier arbeitet. Wenn jemand Schiffer kennt, dann ist’s Sido. Wir müssen mit ihm reden, aber zuvor müssen wir McColl endgültig ausschalten. Bist du bereit?«

Annaka sah nochmals zu McColl hinüber, erschauderte und nickte dann zustimmend.

Chan hatte den klapprigen grünen Opel mit einem Taxi verfolgt; seinen gemieteten Skoda, der vielleicht bekannt war, hatte er dafür nicht benützen wollen. Er wartete, bis Kevin McColl geparkt hatte, dann ließ er das Taxi an ihm vorbeifahren, und als der CIA-Agent ausstieg, entlohnte Chan den Taxifahrer und folgte McColl zu Fuß.

Als er am Vorabend McColl beschattet hatte, nachdem dieser aus Annakas Haus geflüchtet war, hatte er Ethan Hearn angerufen und ihm das Kennzeichen des grünen Opels durchgegeben. Hearn hatte ihm innerhalb einer Stunde Namen und Anschrift des hiesigen BilligAutoverleihs beschafft, von dem der Amerikaner den Opel hatte. Als angeblicher Ermittler von Interpol hatte Chan sich von einer leicht eingeschüchterten Angestellten des Autoverleihs Namen und Heimatanschrift ihres Mieters geben lassen. McColl hatte keine Budapester Adresse angegeben, aber mit typisch amerikanischer Arroganz seinen richtigen Namen benützt. So war es für Chan einfach gewesen, eine weitere Nummer anzurufen, worauf sein Kontaktmann in Berlin den Namen McColl im Computer eingegeben und den Amerikaner als CIA-Agenten enttarnt hatte.

Vor ihm bog McColl auf die Hattyu utca ab und betrat das Gebäude mit der Nummer 75: einen modernen grauen Steinbau, der stark an eine mittelalterliche Festung erinnerte. Zum Glück wartete Chan noch etwas, wie er’s gewöhnlich tat, denn im nächsten Augenblick kam McColl schon wieder heraus. Chan beobachtete neugierig, wie er an die Müllbehälter im Durchgang zum Nachbarhaus trat. Nachdem er sich mit einem raschen Blick in die Runde davon überzeugt hatte, dass anschei-nend niemand auf ihn achtete, zog er seinen Revolver und verbarg ihn sorgfältig in einem der Behälter.

Chan wartete, bis der Amerikaner wieder hineingegangen war; dann setzte er seinen Weg fort und trat durch die Drehtür aus Stahl und Glas in die Eingangshalle des Gebäudes. Dort beobachtete er, wie McColl mit seinem CIA-Dienstausweis Eindruck zu schinden versuchte. Ein Blick auf den Metalldetektor erklärte, weshalb McColl seinen Revolver draußen deponiert hatte. Rein zufällig — oder weil Bourne ihm diese Falle gestellt hatte? Das hätte Chan an seiner Stelle getan.

Nachdem McColl einen Besucherausweis erhalten hatte und in einem Korridor verschwunden war, ging Chan durch den Metalldetektor und zeigte seinen InterpolAusweis vor, den er sich in Paris besorgt hatte. Das beunruhigte die Empfangsdame natürlich, zumal gerade erst ein CIA-Agent vor ihr gestanden hatte, und sie überlegte laut, ob sie den Sicherheitsdienst der Klinik alarmieren oder die Polizei anrufen solle, aber Chan versicherte ihr gelassen, sie ermittelten wegen derselben Sache und seien nur zu Befragungen hier. Jede Behinderung ihrer Ermittlungen, warnte er sie streng, könne zu unvorhersehbaren Komplikationen führen, die sie bestimmt nicht wünsche. Sie nickte weiter leicht nervös, gab ihm seinen Besucherausweis und winkte ihn durch.