McColl sah Annaka Vadas vor sich und wusste, dass Bourne irgendwo in der Nähe sein musste. Obwohl er zu wissen glaubte, dass sie ihn nicht bemerkt hatte, tastete er für alle Fälle nach dem Kunststoffquadrat an seinem Uhrarmband. Die kleine Box enthielt eine aufgespulte dünne Nylonschnur mit hoher Reißfestigkeit. McColl hätte Bourne lieber mit einem Schuss liquidiert, weil das ein schnelles und sauberes Verfahren war. Kein Mensch, selbst wenn er noch so stark war, konnte eine gut platzierte Kugel ins Herz oder ins Gehirn überleben. Andere Methoden, die auf Überraschung und brutaler Gewalt basierten und zu denen er sich wegen des Metalldetektors gezwungen sah, dauerten länger und waren oft nicht gerade sauber. Das erhöhte Risiko war ihm ebenso bewusst wie die Möglichkeit, dass er auch Annaka Vadas würde beseitigen müssen. Bei diesem Gedanken empfand Mc-Coll allerdings ein gewisses Bedauern. Die junge Frau war attraktiv und sexy; es ging ihm gegen den Strich, eine Schönheit wie sie zu liquidieren.
Er beobachtete jetzt, wie sie ohne Zweifel zu einem Treff mit Jason Bourne unterwegs war; für ihre Anwesenheit in diesem Gebäude konnte er sich keinen anderen Grund denken. Er blieb in Sichtweite hinter ihr und tippte mit der Fingerspitze auf die Kunststoffbox an der Innenseite seines linken Handgelenks, während er auf seine Chance wartete.
Aus seinem Versteck in einem Lagerraum sah Bourne Annaka an sich vorbeigehen. Sie wusste genau, wo er war, aber zu ihrer Ehre drehte sie den Kopf nicht im Geringsten in seine Richtung, als sie an der Tür vorbeikam. Sein scharfes Gehör vernahm McColls Schritt bereits, bevor er auftauchte. Jeder Mensch hatte einen bestimmten Gang, eine Art, sich zu bewegen, die charakteristisch war, wenn sie nicht bewusst verändert wurde. McColls Schritt war schwer, solide und bedrohlich, zweifellos der Schritt eines professionellen Menschenjägers.
Hier hing alles von der Wahl des richtigen Zeitpunkts ab, das wusste Bourne. Bewegte er sich zu früh, würde McColl ihn sehen und reagieren, wodurch das Überraschungsmoment verloren war. Wartete er zu lange, würde er mehrere Schritte machen müssen, um ihn einzuholen, und dabei riskieren, dass McColl ihn hörte. Aber Bourne kannte jetzt McColls Schritt und konnte so berechnen, wann der CIA-Killer genau den richtigen Punkt erreichen würde. Er verdrängte seine Schmerzen, die vor allem von den gebrochenen Rippen kamen, aus seinem Bewusstsein. Wie sehr sie ihn behindern würden, konnte er nicht im Voraus wissen, aber er war zuversichtlich, dass der von Dr. Ambrus angelegte Dachziegelverband die gebrochenen Rippen schützen würde.
Nun tauchte Kevin McColl auf: massig und gefährlich. Als der Agent an der einen Spalt weit geöffneten Tür des Lagerraums vorbeiging, sprang Bourne heraus und traf seine rechte Niere mit einem beidhändig geführten schweren Schlag. Der Körper des Amerikaners sackte Bourne entgegen, er packte McColl und wollte ihn in den Lagerraum zerren.
Aber McColl warf sich mit schmerzverzerrtem Gesicht herum und ließ eine gewaltige Faust gegen Bournes Brust krachen. Als Bourne, der vor Schmerzen Sterne vor den Augen sah, zurücktaumelte, zog McColl die Nylonschnur heraus und stürzte sich auf ihn, um Bourne mit der Schlinge zu erwürgen. Bourne brachte zwei wuchtige Handkantenschläge an, die für McColl sehr schmerzhaft sein mussten. Trotzdem kam er mit blutunterlaufenen Augen und grimmiger Entschlossenheit weiter auf ihn zu. Er schlang die Nylonschnur um Bournes Hals und zog sie ruckartig so fest zu, dass Bourne im ersten Augenblick hochgerissen wurde.
Bourne rang nach Atem, was McColl nur Gelegenheit gab, die Schlinge noch enger zu ziehen. Dann erkannte Bourne jedoch seinen Fehler. Er hörte auf, sich Sorgen wegen seiner Atmung zu machen, und konzentrierte sich darauf, sich zu befreien. Er riss ein Knie hoch, rammte es dem Angreifer zwischen die Beine. Als McColl nach Luft schnappte, lockerte sein Griffsich für einen Augenblick so weit, dass Bourne zwei Finger zwischen die Nylonschnur und das Fleisch seines Halses schieben konnte.
McColl war jedoch ein bulliger Mann, der sich schneller erholte, als Bourne sich hätte vorstellen können. Er grunzte wütend, legte seine gesamte Kraft in seine Arme und zog die Nylonschlinge ruckartig noch fester zu. Aber Bourne hatte den Vorteil gewonnen, den er brauchte, und seine beiden Finger krümmten sich zu einer Drehbewegung, als die Schnur sich straffte, und zerrissen sie, genau wie ein Fisch mit einem Sprung einen Ruck erzeugen kann, der die Angelleine zum Reißen bringt.
Bourne gebrauchte die Hand, die an seinem Hals gelegen hatte, zu einem Schlag nach schräg oben, der McColl unter dem Kinn traf. Der nach hinten schnappende Kopf des Agenten knallte an den Türrahmen, aber als Bourne nachsetzte, benützte McColl seine Ellbogen, um ihn in den Lagerraum kreiseln zu lassen. McColl war sofort hinter ihm her, griff sich ein Schneidmesser, das auf einem unausgepackten Karton lag, und schwang es. Die herabsausende scharfe Klinge zerschnitt Bournes Labormantel. Obwohl er mit einem Satz zurücksprang, schlitzte ihm der nächste Angriff so das Hemd auf, dass der Verband um seinen Brustkorb sichtbar wurde.
Ein triumphierendes Grinsen überflog McColls Gesicht. Er erkannte eine verwundbare Stelle, wenn er eine sah, und konzentrierte sich sofort darauf. Indem er das Schneidmesser in die linke Hand nahm, täuschte er einen Angriff damit vor und traf Bournes Brustkorb dann mit einer wuchtigen rechten Geraden. Darauf war Bourne jedoch gefasst, und er konnte den Boxhieb mit dem Unterarm abblocken.
Nun sah McColl eine Lücke in seiner Deckung und schwang das Schneidmesser, um Bourne den ungeschützten Hals aufzuschlitzen.
Als hinter ihr die ersten Kampfgeräusche laut wurden, hatte Annaka sich umgedreht, aber zwei Ärzte gesehen, die auf die Einmündung des Korridors zukamen, auf dem Bourne und McColl miteinander rangen. Sie trat sofort zwischen die Kämpfenden und die Ärzte und bombardierte die Ärzte mit Fragen, bis sie mit irritierten Mienen an der Einmündung vorbei waren.
Annaka trennte sich möglichst rasch von den beiden, hastete zurück und erfasste unterwegs mit einem Blick, dass Bourne zu unterliegen drohte. Weil sie sich an Stepans Ermahnung erinnerte, Bourne unbedingt am Leben zu erhalten, rannte sie den Korridor entlang. Bis sie eintraf, waren die Kämpfenden bereits in den Lagerraum getorkelt. Sie stürmte gerade rechtzeitig durch die offene Tür, um McColls mörderischen Angriff auf Bournes Hals zu sehen.
Sie warf sich auf ihn und brachte ihn genug aus dem Gleichgewicht, dass die im Licht der Deckenbeleuchtung blitzende Klinge des Schneidmessers Bournes Hals verfehlte und Funken sprühend den Stahlrahmen eines Lagerregals traf. McColl nahm sie jetzt aus dem Augenwinkel heraus wahr. Er warf sich herum, riss den angewinkelten linken Ellbogen hoch und rammte ihn ihr an die Kehle.
Annaka griff sich reflexartig an den Hals, als sie würgend auf die Knie sank. McColl holte aus, um mit dem Schneidmesser über sie herzufallen. Bourne hielt noch immer die Nylonschnur in einer Hand und warf sie McColl von hinten um den Hals.
McColl taumelte rückwärts, aber statt sich an die Kehle zu greifen, rammte er einen Ellbogen gegen Bournes gebrochene Rippen. Obwohl Bourne wieder Sterne vor den Augen sah, ließ er nicht locker, schleifte McColl allmählich von Annaka weg und hörte seine Absätze über die Fliesen scharren, während McColl mit stetig wachsender Verzweiflung weiter seine Rippen bearbeitete.
Dem Agenten stieg das Blut zu Kopf, seine Halssehnen traten wie gestraffte Seile hervor, und wenig später begannen seine Augen, aus den Höhlen zu quellen. Kleine Blutgefäße in Nase und Gesicht platzten, und die hochgezogenen Lippen ließen blasses Zahnfleisch sehen. Die geschwollene Zunge hing ihm aus dem weit aufgerissenen Mund… und trotzdem besaß er noch die Kraft zu einem letzten Schlag gegen Bournes Rippen. Bourne fuhr heftig zusammen, und sein Griff lockerte sich etwas, so-dass McColl wieder auf die Beine kam.