Выбрать главу

Danach waren alle erschöpft und gingen zu Bett, weil sie morgen sehr früh würden aufstehen müssen. Trotzdem ging Arsenow ihre Aufgaben im Rahmen des Unternehmens nochmals mit ihnen durch, wobei er darauf bestand, dass nur Isländisch gesprochen wurde. Er wollte sehen, wie mentale Erschöpfung sich auf sie auswirkte. Nicht, dass er an ihnen gezweifelt hätte. Seine neun Landsleute hatten ihm ihren Wert längst bewiesen. Sie waren körperlich kräftig, mental belastbar und kannten — was vielleicht am wichtigsten war — weder Reue noch Erbarmen. Aber keiner von ihnen hatte jemals an einem Unternehmen dieser Größe und dieser globalen Auswirkungen teilgenommen; ohne das NX 20 hätten sie niemals die Mittel dafür gehabt. Und so war es besonders befriedigend, ihnen zuzusehen, wie sie die nötigen Energiereserven mobilisierten, um ihre jeweiligen Aufgaben fehlerlos herunterzubeten.

Er gratulierte ihnen und sagte dann mit großer Liebe und Zuneigung im Herzen, als spräche er zu seinen eigenen Kindern: »La illaha ill Allah.«

«La illaha ill Allah«, antworteten sie im Chor mit solch brennender Liebe im Blick, dass Arsenow fast zu Tränen gerührt war. Erst in diesem Augenblick, als sie einander aufmerksam betrachteten, wurde ihnen das Ungeheuerliche ihrer selbst gestellten Aufgabe richtig bewusst. Was Arsenow betraf, so sah er sie alle — seine Familie — in diesem fremden, abweisenden Land unmittelbar vor dem ruhmreichsten Augenblick versammelt, den ihr Volk jemals erleben würde. Noch nie hatte sein Gefühl, die Zukunft gehöre ihnen, so hell gestrahlt, noch nie hatte er seine Hingabe an ihre gerechte Sache so tief empfunden. Er war jedem von ihnen für seine Anwesenheit dankbar.

Als Sina mit hinaufgehen wollte, legte er ihr eine Hand auf den Arm, aber während die anderen sie im Vorbeigehen ansahen, schüttelte sie den Kopf.»Ich muss ihnen beim Blondieren helfen«, sagte sie, und er ließ sie gehen.

«Allah schenke dir friedliche Nachtruhe«, sagte sie leise, bevor sie die Treppe hinaufhuschte.

Später lag Arsenow im Bett und fand wie gewöhnlich keinen Schlaf. Auf der anderen Seite des Zimmers, im zweiten schmalen Bett, schnarchte Achmed mit der Intensität einer Motorsäge. Eine leichte Brise bewegte den Vorhang vor dem offenen Fenster. Als Jugendlicher hatte Arsenow sich an Kälte gewöhnen müssen, und jetzt mochte er sie. Er starrte zur Zimmerdecke hinauf und dachte wie immer zur Nachtzeit an Chalid Murat, an seinen Verrat an seinem Freund und Mentor. Obwohl diese Liquidierung notwendig gewesen war, belastete seine persönliche Treulosigkeit ihn weiterhin. Und dazu kam seine Beinverletzung: Auch wenn sie noch so gut heilte, erinnerten die Schmerzen ihn ständig daran, was er getan hatte. Letztlich hatte er Chalid Murat im Stich gelassen, und nichts, was er jetzt tat, konnte etwas an dieser Tatsache ändern.

Er stand auf, ging auf den Flur hinaus und tappte lautlos die Treppe hinunter. Nach alter Gewohnheit hatte er vollständig bekleidet im Bett gelegen. Er trat in die frische Nachtluft hinaus, zog eine Zigarette aus der Hemdtasche und zündete sie an. Tief über dem Horizont segelte ein aufgedunsener Mond über den mit Sternen besprenkelten Himmel. Hier gab es keine Bäume; er hörte keine Insekten.

Als er sich ein Stück weit vom Haus entfernte, begannen seine wirren Gedanken sich zu klären und zu beruhigen. Vielleicht würde er nach dieser Zigarette vor dem für halb vier Uhr angesetzten Treff mit Spalkos Boot sogar noch ein paar Stunden Schlaf finden.

Arsenow war mit seiner Zigarette fast fertig und wollte schon kehrtmachen, als er das Flüstern leiser Stimmen hörte. Er zog überrascht seine Pistole und sah sich um.

Die von der nächtlichen Brise an sein Ohr getragenen Stimmen kamen hinter zwei riesigen Felsblöcken hervor, die wie die Hörner eines Ungeheuers auf der Klippe aufragten.

Er ließ die Zigarette fallen, trat die Glut aus und schlich auf die Felsformation zu. Obwohl er sich vorsichtig bewegte, war er durchaus bereit, sein Magazin in die Herzen derer zu leeren, die sie anscheinend bespitzelten.

Aber als er um den leicht gewölbten Felsen blickte, sah er keine Ungläubigen, sondern Sina. Sie sprach leise auf eine andere, weit größere Gestalt ein, die Arsenow von seinem Standort aus nicht gleich erkannte. Er bewegte sich wieder und trat etwas näher. Was gesprochen wurde, konnte er nicht verstehen, aber noch bevor er Sinas Hand auf dem Arm des anderen sah, erkannte er die Stimme, die sie benützte, wenn sie ihn verführen wollte.

Er drückte die linke Faust an seine Schläfe, als ließe sich das plötzliche Pochen in seinem Kopf so unterdrücken. Am liebsten hätte er laut gekreischt, als er sah, wie die Finger ihrer Hand Spinnenbeine bildeten, wie ihre Nägel über den Arm des Mannes glitten, den sie… wen versuchte sie eigentlich zu verführen? Seine Eifersucht drängte ihn dazu, aktiv zu werden. Obwohl er riskierte, dabei gesehen zu werden, trat er — wobei er teilweise ins Mondlicht geriet — weiter vor, bis er das Gesicht Magomets erkennen konnte.

Blinde Wut erfasste ihn, und er zitterte am ganzen Leib. Er dachte an seinen Mentor. Was hätte Chalid Murat an deiner Stelle getan? fragte er sich. Er hätte das Paar zweifellos gestellt, sich von beiden einzeln erklären lassen, was sie taten, und ihnen danach sein Urteil verkündet.

Arsenow richtete sich zu seiner ganzen Größe auf, trat auf das Paar zu und hielt dabei den rechten Arm vor sich ausgestreckt. Magomet, der ihm mehr oder weniger zugewandt war, sah ihn kommen und wich abrupt zurück, sodass Sinas Hand nicht mehr auf seinem Arm lag. Sein Mund war weit geöffnet, aber vor Schock und Entsetzen brachte er keinen Laut heraus.

«Magomet, was hast du?«, fragte Sina. Erst dann drehte sie sich um und sah Arsenow auf sie zukommen.

«Hassan, nein!«, rief sie, als Arsenow abdrückte.

Die Kugel trat durch Magomets offenen Mund ein und riss ihm den Hinterkopf weg. Er wurde in einem Schwall von Blut und Gehirnmasse zurückgeworfen.

Arsenow richtete seine Pistole auf Sina. Ja, dachte er, Chalid Murat hätte die Situation bestimmt anders bewältigt, aber Chalid Murat ist tot, und ich, Hassan Arsenow, der seine Ermordung geplant hat, lebe noch und habe das Kommando, daher wird es diesmal anders gemacht. Wir leben in einer neuen Welt.

«Jetzt du«, sagte er.

Sina starrte in seine schwarzen Augen und wusste genau, dass sie ihn anflehen, vor ihm auf die Knie sinken und um Gnade betteln sollte. Jede Erklärung, die sie ihm vielleicht hätte geben können, war ihm egal. Sie wusste, dass er vernünftigen Argumenten nicht mehr zugänglich war; in diesem Augenblick war er nicht imstande, die Wahrheit von einer geschickten Lüge zu unterscheiden. Sie wusste auch, dass es gefährlich gewesen wäre, ihm hier und jetzt zu geben, wonach er gierte. Das war eine Falle, eine gefährlich in die Tiefe führende schiefe Bahn, von der es kein Entkommen mehr gab, sobald man sie einmal betreten hatte. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn an der Ausführung seines Vorhabens zu hindern.

Ihre Augen blitzten.»Schluss jetzt!«, befahl sie.»Aber sofort!«Sie streckte eine Hand aus, umfasste den Pistolenlauf und bog ihn so nach oben, dass die Waffe nicht mehr auf ihren Kopf zielte. Sie riskierte einen Blick auf den toten Magomet. Das war ein Fehler, den sie nicht noch einmal machen würde.

«Was fällt dir ein?«, fragte sie scharf.»Hast du so kurz vor dem Ziel den Verstand verloren?«

Es war clever von Sina, Arsenow an den Grund ihres Aufenthalts in Reykjavik zu erinnern. Seine Liebe zu ihr hatte ihn vorübergehend das größere Ziel aus den Augen verlieren lassen. Er hatte nur auf ihren Tonfall und ihre Hand auf Magomets Arm reagiert.

Mit eckigen Bewegungen steckte er die Pistole weg.

«Was machen wir jetzt?«, fragte sie.»Wer übernimmt Magomets Aufgaben?«

«Das ist alles deine Schuld«, sagte er angewidert.»Lass dir also was einfallen.«