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Oszkar saß in genau derselben Haltung da wie vor einem Jahr, als Chan ihn zuletzt besucht hatte. Er war ein birnenförmiger Mann mittleren Alters mit gewaltigem Backenbart und einer Knollennase. Als Chan auf der Schwelle erschien, stand er auf, kam hinter dem Schreibtisch hervor und schüttelte ihm grinsend die Hand.

«Willkommen!«, sagte er und bot Chan mit einer Handbewegung den Besuchersessel an.»Was kann ich für dich tun?«

Chan zählte seinem Kontaktmann auf, was er brauchte. Oszkar schrieb mit, während Chan sprach, und nickte zwischendurch mehrmals wortlos.

Dann sah er auf.»Ist das alles?«Er wirkte enttäuscht, denn er liebte nichts mehr als echte Herausforderungen, und die Beschaffung einer Luftpistole war das gewiss nicht.

«Nicht ganz«, sagte Chan.»Außerdem muss ich ein mit einer Magnetkarte gesichertes Schloss knacken.«

«Das klingt schon viel besser!«Oszkar strahlte jetzt. Er rieb sich die Hände, als er aufstand.»Komm mit, mein Freund.«

Er führte Chan auf einen tapezierten Korridor hinaus, auf dem altmodische Gaslampen zu brennen schienen. Oszkars watschelnder Gang erinnerte an einen Pinguin, aber wenn man erlebte, wie er sich in weniger als neunzig Sekunden aus drei Paar Handschellen befreite, erhielt das Wort Finesse plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Osz-kar öffnete eine Tür und ging in seine Werkstatt voraus — ein großer Raum, der durch Werkbänke und Stahltheken unterteilt war. Er führte Chan zu einer Theke und begann, in ihren senkrecht übereinander angeordneten Schubladen herumzuwühlen. Schließlich brachte er einen kleinen Würfel aus Chrom und schwarzem Metall zum Vorschein.

«Alle Magnetschlösser gehen auf, wenn sie stromlos sind, das weißt du, nicht wahr?«Als Chan nickte, fuhr er fort:»Und sie sind alle störungssicher, was bedeutet, dass sie ständig unter Spannung stehen müssen, um zu funktionieren. Wer eines dieser Schlösser einbaut, weiß natürlich, dass jede Unterbrechung der Stromversorgung das Schloss öffnet, deshalb gibt’s immer eine Notstromversorgung, manchmal auch zwei, wenn der Betreffende paranoid genug ist.«

«Dieser Mann ganz sicher«, sagte Chan.

«Also gut«, sagte Oszkar nickend.»Eine Unterbrechung der Stromversorgung kannst du vergessen — das dauert zu lange, und selbst wenn du genügend Zeit hättest, könntest du vielleicht nicht alle Zuleitungen kappen. «Er hob einen Zeigefinger.»Nicht so allgemein bekannt ist allerdings, dass alle Magnetschlösser mit Gleichstrom arbeiten, deshalb. «Er wühlte in einer anderen Schublade, hielt einen weiteren Gegenstand hoch.»Was du brauchst, ist ein tragbares WechselstromVersorgungsteil, das genügend Saft liefert, um jedes Magnetschloss zu knacken.«

Chan griff nach dem Versorgungsteil. Es war schwerer, als es aussah.»Wie funktioniert die Sache?«

«Stell dir vor, dass ein Blitz in ein elektrisches System einschlägt. «Oszkar tippte auf das Versorgungsteil.»Dieses Baby bringt den Gleichstrom lange genug in Unordnung, ohne jedoch einen Kurzschluss zu verursachen, sodass du die Tür öffnen kannst. Nach gewisser Zeit steht die Gleichstromversorgung wieder, und das Schloss ist wieder gesichert.«

«Wie lange habe ich Zeit?«, fragte Chan.

«Das hängt vom Fabrikat und Modell des Magnetschlosses ab. «Oszkar zuckte mit den massigen Schultern.»Schätzungsweise eine Viertelstunde, vielleicht zwanzig Minuten, aber bestimmt nicht länger.«

«Kann ich den Stromstoß nicht einfach wiederholen?«

Oszkar schüttelte den Kopf.»Damit würdest du das Magnetschloss ziemlich sicher in verriegelter Stellung einfrieren und müsstest die Tür aufbrechen, um wieder herauszukommen. «Er lachte, schlug Chan auf den Rücken.»Keine Sorge, ich habe Vertrauen zu dir!«

Chan sah ihn fragend an.»Seit wann hast du zu irgendwas Vertrauen?«

«Recht hast du. «Oszkar legte ihm ein kleines Reißverschlussetui aus Leder hin.»Kunstfertigkeit ist immer besser als Vertrauen.«

Um Punkt zwei Uhr fünfzehn isländischer Zeit verstauten Arsenow und Sina die sorgfältig in Decken gewickelte Leiche Magomets in einem Van und fuhren damit auf der Küstenstraße weiter nach Süden zu einer abgelegenen kleinen Bucht. Arsenow saß am Steuer. Sina studierte eine genaue Landkarte und sagte ihm gelegentlich, wie er fahren musste.

«Ich spüre die Nervosität der anderen«, sagte er nach einiger Zeit.»Dahinter steckt mehr als einfach nur unruhige Erwartung.«

«Wir sind nicht zu einem einfachen Unternehmen hier, Hassan.«

Er sah zu ihr hinüber.»Manchmal frage ich mich, ob du Eiswasser in den Adern hast.«

Sie setzte ein Lächeln auf, als sie kurz sein Bein drückte.»Du weißt recht gut, was ich in den Adern habe.«

Arsenow nickte.»Das stimmt. «Sosehr ihn der Wunsch antrieb, sein Volk zu führen, er musste sich doch eingestehen, dass er in Sinas Gesellschaft am glücklichsten war. Er sehnte sich nach der Zukunft, in der es keinen Krieg mehr geben würde, damit er aus seiner Rebellenrolle schlüpfen und nur noch ihr Ehemann und der Vater ihrer Kinder sein konnte.

«Sina«, sagte er, als sie von der Asphaltstraße abbogen und dem tief ausgefahrenen Weg folgten, der durch Felsen zu der Bucht hinabführte,»wir haben nie über uns gesprochen.«

«Wie meinst du das?«Sie wusste natürlich sehr gut, wie er das meinte, und bemühte sich, die Angst zu verdrängen, die ihr plötzlich die Kehle zuschnürte.»Natürlich haben wir das getan.«

Der Weg wurde steiler, und Arsenow bremste den Van ab. Vor ihnen konnte Sina die letzte Biegung sehen, dahinter lagen ein steiniger Strand und der ruhelose Nordatlantik.

«Nicht über unsere Zukunft, unsere Ehe, unsere Kinder, die wir eines Tages haben werden. Ich wüsste keinen besseren Zeitpunkt, um einander Liebe zu geloben.«

Erst jetzt begriff Sina ganz, wie intuitiv der Scheich sich in andere hineinfühlte. Denn Hassan Arsenow hatte sich durch die eigenen Worte verdammt. Er fürchtete sich davor, zu sterben. Das hörte sie aus seiner Wortwahl heraus, selbst wenn Blick und Tonfall ihn nicht verrieten.

Sie spürte jetzt auch seine Zweifel an ihr. Wenn sie eines gelernt hatte, seit sie sich den Aufständischen angeschlossen hatte, dann dass Zweifel alle Initiative, Entschlossenheit und besonders Tatkraft lähmten. Vielleicht wegen der extrem sorgenvollen Anspannung, unter der er stand, hatte er sich jetzt verraten, und seine Schwäche war ihr ebenso widerwärtig wie dereinst dem Scheich. Sie hatte einen schlimmen Fehler gemacht, als sie so rasch versucht hatte, Magomet anzuwerben, aber sie war sehr begierig, die Zukunft des Scheichs zu teilen. Trotzdem ließ Hassans gewalttätige Reaktion darauf schließen, dass seine Zweifel an ihr schon früher eingesetzt haben mussten. Hielt er sie etwa nicht mehr für vertrauenswürdig?

Sie hatten den Treffpunkt eine Viertelstunde vor der vereinbarten Zeit erreicht. Sina wandte sich ihm zu und nahm sein Gesicht in beide Hände.»Hassan, wir sind lange im Schatten des Todes Seite an Seite gegangen. Wir haben überlebt, weil das Allahs Wille war, aber auch wegen unserer unbeirrbaren Liebe zueinander. «Sie beugte sich nach vorn und küsste ihn.»Deshalb geloben wir einander nun ewige Treue, weil wir den Tod auf dem Pfad Allahs mehr begehren, als unsere Feinde ihr Leben lieben.«

Arsenow schloss kurz die Augen. Dies hatte er sich von ihr ersehnt; dies hatte er niemals zu erhalten befürchtet. Allein deshalb, das erkannte er jetzt, war er sofort zu einem hässlichen Schluss gelangt, als er sie mit Magomet gesehen hatte.

«In Allahs Blick, unter Allahs Hand, in Allahs Herz. «Das klang, als spreche er einen Segenswunsch aus.

Sie umarmten sich, aber Sina war in Gedanken natürlich weit jenseits des Nordatlantiks. Sie fragte sich, was der Scheich in diesem Augenblick tun mochte. Sie sehnte sich danach, sein Gesicht zu sehen, in seiner Nähe zu sein. Bald, tröstete sie sich. Schon bald würde ihr alles gehören, was sie begehrte.