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Später stiegen sie aus dem Van, standen am Strand und sahen und hörten zu, wie die hereinkommenden Wellen sich im Geröll totliefen. In der kurzen Nacht des hohen Nordens war der Mond bereits untergegangen. In einer halben Stunde würde es hell werden, und ein weiterer langer Tag würde anbrechen. Sie standen mitten in der Bucht, deren Arme so weit ins Meer hinausragten, dass die Brandung stark abgeschwächt wurde und die niedrigeren Wellen sich ungefährlich am Strand brachen. Der kalte Wind, der übers schwarze Wasser strich, ließ Sina zittern, aber Arsenow war er willkommen.

In unbestimmbarer Entfernung auf dem Meer sahen sie ein weißes Licht dreimal blinken. Das Fischerboot war da. Arsenow bestätigte das Signal, indem er dreimal mit seiner Stablampe blinkte. Dann konnten sie das ohne Positionslichter fahrende Boot erkennen, das langsam näher an den Strand heranglitt. Sie gingen zum Van zurück und schleppten den Toten miteinander zur Gezeitenmarke hinunter.

«Werden sie überrascht sein, dich wiederzusehen?«, fragte Arsenow.

«Sie sind Männer des Scheichs, die überrascht nichts«, antwortete Sina, der nur allzu gut bewusst war, dass Hassan wegen der Lüge, die der Scheich ihm erzählt hatte, glauben musste, dies sei schon ihr zweites Treffen mit der Bootsbesatzung. Aber der Scheich würde natürlich vorgesorgt und sie entsprechend instruiert haben.

Als Arsenow die Stablampe wieder einschaltete, sahen sie ein Ruderboot auf sie zuhalten, das schwer beladen tief im Wasser lag. Es trug zwei Männer und einen Kistenstapel; weitere Kisten würden sich noch an Bord des Fischerboots befinden. Arsenow sah auf seine Uhr; er hoffte, sie würden vor Tagesanbruch fertig sein.

Die beiden Männer ließen den Bootsbug auf den Strand laufen und stiegen ins eisige Wasser. Sie vergeudeten keine Zeit damit, sich vorzustellen, taten aber auf Spalkos Befehl so, als sähen sie Sina nicht zum ersten Mal.

Tüchtig zupackend luden die vier die Kisten aus und stapelten sie auf der Ladefläche des Vans. Arsenow hörte ein Geräusch, drehte sich um und sah ein zweites Ruderboot auf den Strand laufen. Nun wusste er, dass sie der Morgendämmerung zuvorkommen würden.

Sie verfrachteten Magomets Leiche in das entladene Ruderboot, und Sina befahl den Männern, den Toten zu beschweren und in tiefstem Wasser über Bord zu werfen.

Sie bestätigten ihren Befehl ohne Murren, was Arsenow gefiel. Offenbar hatte Sina Eindruck gemacht, als sie die Übergabe der Fracht an die Bootsbesatzung überwacht hatte.

Binnen kurzem hatten sie zu sechst die restlichen Kisten in den Van verladen. Dann stiegen die Männer so schweigsam in ihre Ruderboote, wie sie zuvor ausgestiegen waren, und begannen mit einem kräftigen Schub von Arsenow und Sina die Rückfahrt zu dem Fischerboot.

Sina und Arsenow sahen sich an. Mit dem Eintreffen der Fracht hatte ihr Unternehmen plötzlich eine ganz neue Realität bekommen.

«Fühlst du’s, Sina?«, fragte Arsenow, indem er die

Hand auf eine der Kisten legte.»Kannst du den Tod spüren, der darin lauert?«

Sina bedeckte seine Hand mit ihrer.»Was ich spüre, ist unser Sieg.«

Sie fuhren zu dem Haus auf der Klippe zurück, in dem sie von den übrigen Angehörigen ihres Teams empfangen wurden, die sich durch geschickten Gebrauch von Wasserstoffperoxyd und farbigen Kontaktlinsen bis zur Unkenntlichkeit verwandelt hatten. Niemand verlor ein Wort über Magomets Tod. Mit ihm hatte es ein schlimmes Ende genommen, und so kurz vor Beginn ihres Unternehmens wollte niemand Einzelheiten wissen — alle hatten Wichtigeres im Kopf.

Die Kisten wurden sorgfältig ausgeladen und geöffnet; sie enthielten kompakte Maschinenpistolen, Pakete mit dem Plastiksprengstoff C4 und ABC-Schutzanzüge. Eine weitere Kiste, kleiner als die anderen, enthielt Schalotten, die abgepackt auf Eis lagen. Arsenow nickte Achmed zu, der sich Latexhandschuhe überstreifte und die Kiste mit den Schalotten zu dem Lieferwagen mit der Beschriftung Hajnarßördur Obst & Gemüse trug. Dann setzte der jetzt blonde und blauäugige Achmed sich ans Steuer und fuhr davon.

Arsenow und Sina blieb es vorbehalten, die letzte Kiste zu öffnen, die das NX 20 enthielt. Gemeinsam betrachteten sie die beiden Hälften, die scheinbar harmlos in ihrem schützenden Kokon aus Formschaum lagen, und erinnerten sich daran, was sie in Nairobi erlebt hatten. Arsenow sah auf seine Armbanduhr.»In wenigen Stunden trifft der Scheich mit der Ladung ein.«

Die letzten Vorbereitungen hatten begonnen.

Kurz nach neun Uhr hielt ein Fahrzeug des Möbelhauses Fontana vor der Lieferantenzufahrt im Untergeschoss der Zentrale von Humanistas, Ltd. wo es von zwei Wachleuten angehalten wurde. Einer der beiden sah auf einer Liste nach, und obwohl darin eingetragen war, dass Ethan Hearn eine Lieferung von Fontana erwartete, wollte er den Lieferschein sehen. Als der Fahrer ihn aushändigte, forderte der Wachmann ihn auf, die Hecktür des Möbelwagens zu öffnen. Er kletterte hinein und hakte die aufgeführten Artikel ab; dann öffneten sein Partner und er sämtliche Kartons und kontrollierten die beiden Sessel, das Sideboard, den Schrank und das Schlafsofa. Alle Türen wurden geöffnet, jedes Sofa- und Sesselpolster hochgehoben. Da alles in Ordnung war, gaben die Wachleute den Lieferschein zurück und erklärten den beiden Möbelpackern, wo Ethan Hearns Büro zu finden war.

Der Fahrer parkte in der Nähe des Aufzugs; dann lud er mit seinem Partner die Möbel aus. Sie mussten viermal fahren, um alles in den fünften Stock hinaufzuschaffen, wo sie von Hearn erwartet wurden. Er war nur zu gern bereit, ihnen zu zeigen, wohin sie die Möbelstücke stellen sollten, und ebenso gern steckten sie das großzügige Trinkgeld ein, das er ihnen nach getaner Arbeit in die Hand drückte.

Nachdem sie gegangen waren, schloss Hearn die Tür und begann, die bisher neben seinem Schreibtisch gestapelten Akten in alphabetischer Reihenfolge in den Schrank zu stellen. Die Stille eines gut geführten Büros sank über den Raum herab. Als einige Zeit später angeklopft wurde, richtete Hearn sich aus der Hocke auf und ging zur Tür. Er öffnete sie und stand der Frau gegenüber, die gestern spätabends den Mann auf der Tragbahre ins Gebäude und mit nach oben begleitet hatte.

«Sie sind Ethan Hearn?«

Als er nickte, streckte sie ihm die Hand hin.»Annaka Vadas.«

Hearn schüttelte ihr die Hand, die fest und trocken war. Weil er sich an Chans Warnung erinnerte, setzte er ein unschuldig neugieriges Gesicht auf.»Kennen wir uns irgendwoher?«

«Ich bin eine Freundin Stepans. «Ihr Lächeln blendete ihn fast.»Kann ich einen Augenblick reinkommen — oder wollten Sie gerade gehen?«

«Ich habe eine Besprechung…«Er sah auf seine Armbanduhr.»Aber noch nicht so bald.«

«Ich halte Sie nicht lange auf. «Sie ging zu seinem neuen Sofa, nahm Platz und schlug die Beine übereinander. Als sie jetzt zu Hearn aufsah, war ihr Gesichtsausdruck hellwach und erwartungsvoll.

Er wandte sich ihr, auf seinem Drehstuhl sitzend, zu.»Was kann ich für Sie tun, Frau Vadas?«

«Ich fürchte, Sie sehen die Sache verkehrt«, sagte sie lebhaft.»Die Frage ist, was ich für Sie tun kann.«

Er schüttelte den Kopf.»Tut mir Leid, das verstehe ich nicht.«

Sie summte vor sich hin, während sie sich in seinem Büro umsah. Dann beugte sie sich mit auf den Knien aufgestützten Ellbogen nach vorn.»Oh, das verstehen Sie genau, Ethan. «Wieder dieses Lächeln.»Ich weiß nämlich etwas über Sie, das nicht mal Stepan weiß.«

Er setzte wieder sein unschuldig neugieriges Gesicht auf und breitete scheinbar hilflos die Hände aus.

«Sie geben sich zu viel Mühe«, sagte sie knapp.

«Trotzdem weiß ich, dass Sie außer für Stepan noch für jemand anders arbeiten.«

«Nein, ich…«

Aber sie legte einen Zeigefinger auf die Lippen.»Ich habe Sie gestern in der Tiefgarage gesehen. Sie hatten keinen Grund, dort zu sein, und selbst wenn Sie einen gehabt hätten, haben Sie sich viel zu sehr für das interessiert, was dort passierte.«