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Im dritten Stock erreichten Spalkos Männer die äußere Aufzugtür, die sie mit einem Feuerwehrschlüssel entriegelten. Dann stemmten sie die Tür auf, sodass der Aufzugschacht zugänglich war. Unmittelbar über sich konnten sie den Boden der stecken gebliebenen Kabine sehen. Sie hatten ihre Befehle; sie wussten, was sie zu tun hatten. Sie hoben ihre Maschinenpistolen, eröffneten das Feuer und durchsiebten das untere Drittel der Aufzugkabine. Diese konzentrierte Feuerkraft konnte niemand überleben.

Chan hatte sich mit gespreizten Armen und Beinen in der Aussparung des Fahrstuhlschachts verkeilt und beo-bachtete, wie das untere Drittel der Kabine wegfiel. Gegen Querschläger schützten ihn die Kabinentür und der Schacht selbst. Durch seinen Eingriff in die Verdrahtung war es ihm gelungen, die Tür gerade so weit zu öffnen, dass er sich hinauszwängen konnte. Er hatte sich in der Wandaussparung hochgestemmt und befand sich ungefähr auf Höhe der Kabinendecke, als der Geschosshagel einsetzte.

Das Echo der durch den Aufzugschacht hämmernden Schüsse war kaum verhallt, als er ein Summen hörte, als schwärme ein ganzer Bienenschwarm aus seinem Stock. Er hob den Kopf und sah zwei Kletterseile, die sich aus einem oberen Stockwerk durch den Schacht herabschlängelten. Im nächsten Augenblick kamen zwei schwer bewaffnete Männer in Kampfanzügen Hand über Hand die Seile

Einer der beiden sah ihn und schwang seine Maschinenpistole in seine Richtung. Chan gab einen Schuss aus der Luftpistole ab, und die Waffe glitt aus den tauben Fingern des Angreifers. Als der andere auf ihn zielte, schnellte Chan sich durch die Luft und klammerte sich an den Bewusstlosen, der nun in seinem Abseilgurt am Seil hing. Der zweite Mann, mit seinem Schutzhelm gesichtslos und anonym, schoss auf Chan, der den Bewusstlosen zwischen sie brachte und als Schutzschild benützte. Mit einem gut gezielten Fußtritt trat er dem Schützen die Maschinenpistole aus den Händen.

Sie landeten miteinander auf dem Kabinendach. Der kleine farblose Würfel aus tödlichem C4 war mit Kleb-streifen mitten auf der Dachluke befestigt, wo jemand ihn hastig als Sprengfalle verdrahtet hatte. Chan sah mit einem Blick, dass alle Schrauben gelockert waren; stieß einer von ihnen versehentlich gegen die Luke und verschob sie auch nur geringfügig, musste die ganze Kabine in die Luft fliegen.

Chan schoss erneut mit der Luftpistole, aber der Angreifer, der gesehen hatte, wie sein Partner außer Gefecht gesetzt worden war, warf sich zur Seite, wälzte sich herum und trat ihm die Waffe aus der Hand. Gleichzeitig griff er sich die Maschinenpistole seines Partners. Chan stampfte ihm auf die Hand und drehte den Stiefelabsatz von einer Seite zur anderen, damit der Mann die Waffe losließ. Gleichzeitig hämmerten wieder Feuerstöße durch den Schacht, als Spalkos Männer im dritten Stock erneut das Feuer eröffneten.

Der Mann im Kampfanzug nutzte die Tatsache, dass Chan abgelenkt war, um sein Bein wegzuschlagen und ihm die Maschinenpistole zu entreißen. Bevor er schießen konnte, sprang Chan in den Schacht und rutschte die Kabine entlang bis zu der Stelle hinunter, wo die Notbremse ausgefahren war. Dort drückte er sich in die Wandaussparung und machte sich daran, den Mechanismus zu lösen. Der Angreifer auf dem Kabinendach, der Chan verschwinden gesehen hatte, lag jetzt auf dem Bauch und zielte mit der Maschinenpistole auf ihn. Als er sein Ziel erfasst hatte, gelang es Chan, die Notbremse zu lösen. Die Kabine stürzte mitsamt dem entsetzt aufschreienden Mann im Aufzugschacht in die Tiefe.

Chan war mit einem Satz bei dem nächsten Seil und kletterte es wieselflink hinauf. Er war im vierten Stock angelangt und schon dabei, das Magnetschloss unter Wechselstrom zu setzen, als die Kabine unterhalb der Tiefgaragenebene auf dem Boden des Schachts aufschlug. Dabei verschob sich die Abdeckung der Wartungsöff-nung, und der Sprengstoff detonierte. Die Druckwelle schoss den Schacht in dem Augenblick hinauf, als das Magnetschloss stromlos wurde, und Chan wurde durch die Tür geschleudert.

Der Eingangsbereich im dritten Stock war ganz in milchkaffeebraunem Marmor gehalten. Wandleuchter mit Milchglaskelchen tauchten den Raum in ein weiches indirektes Licht. Als Chan sich aufrappelte, sah er keine fünf Meter von sich entfernt Annaka den Flur entlang flüchten. Sie war offensichtlich überrascht — und bestimmt nicht erfreut, vermutete er. Offenbar hatten weder Spalko noch sie erwartet, dass er es schaffen würde, in den vierten Stock zu gelangen. Er lachte lautlos in sich hinein, als er die Verfolgung aufnahm. Kein Wunder, dass sie verblüfft waren; er hatte wirklich Erstaunliches geleistet.

Vor ihm verschwand Annaka durch eine Tür. Chan hörte ein Schloss einschnappen, als sie die Tür hinter sich zuknallte. Er wusste, dass er Bourne und Spalko finden musste, aber Annaka war eine Wildcard geworden, die er nicht ignorieren durfte. Er hatte einen Satz Dietriche bereit, noch bevor er die abgesperrte Tür erreichte. Er führte einen Dietrich ein und lotete die Feinheiten des Schlosses aus. Chan brauchte keine fünf Sekunden, um die Tür zu öffnen — kaum Zeit genug für Annaka, um den Raum zu durchqueren. Sie warf ihm einen angstvollen Blick über die Schulter hinweg zu, bevor sie die zweite Tür hinter sich zuknallte.

Nachträglich gesehen hätte ihr Gesichtsausdruck ihn warnen müssen. Annaka ließ niemals Angst erkennen. Er achtete jedoch mehr auf den eigenartigen Raum, der klein und quadratisch, so nichts sagend wie fensterlos war. Er wirkte unfertig, war frisch in reinem Weiß gestrichen — auch die breiten hölzernen Türrahmen — und völlig unmöbliert. Aber Chans Besorgnis kam zu spät, denn das leise Zischen hatte schon angefangen. Als er den Kopf hob, sah er hoch an den Wänden die Schlitze, aus denen Gas austrat. Er hielt die Luft an, hastete zu der zweiten Tür, durch die Annaka verschwunden war. Sein Dietrich hätte das Schloss öffnen müssen, aber die Tür ließ sich trotzdem nicht aufziehen. Sie muss von außen verriegelt worden sein, dachte er, als er zu der Tür zurückrannte, durch die er hereingekommen war. Er drehte den Türknopf, musste aber feststellen, dass sie ebenfalls von außen verriegelt worden war.

Der hermetisch abgeschlossene Raum begann sich mit Gas zu füllen. Er saß in der Falle.

Neben dem Porzellanteller mit Sandwichkrümeln und dem Stielglas mit einem kleinen Rest Bordeaux hatte Stepan Spalko die Gegenstände aufgereiht, die er Bourne abgenommen hatte: die Keramikpistole, Conklins Handy, den Packen Geldscheine und das Schnappmesser.

Bourne, misshandelt und blutig, war nun schon seit Stunden tief in Delta-Meditation versunken — erst um die Schmerzen ertragen zu können, die seinen Körper bei jeder Anwendung von Spalkos Instrumenten heiß durchfluteten, dann um seine inneren Energiereserven zu schützen und zu bewahren, zuletzt um die Wirkung der Folter abzuschwächen und wieder zu Kräften zu kommen.

Gedanken an Marie, Alison und Jamie flackerten in seinem bewusst geleerten Verstand wie unstete Flämm-chen auf, aber weitaus lebhafter war seine Erinnerung an die Jahre im sonnen durchglühten Phnom Penh. Sein

Verstand, der sich bis zu stiller Gelassenheit beruhigt hatte, erweckte Dao, Alyssa und Joshua zu neuem Leben. Er warf Joshua einen Baseball zu, damit der Junge den Fanghandschuh ausprobieren konnte, den er ihm aus den Staaten mitgebracht hatte, als Joshua sich ihm zuwandte und fragte:»Warum hast du versucht, uns zu reproduzieren? Warum hast du nicht versucht, uns zu retten?«Bourne war einige Augenblicke lang verwirrt, bis er Chans Gesicht sah, das wie ein Vollmond an einem sternlosen Himmel über ihm zu hängen schien. Chan öffnete den Mund und sagte: »Du hast versucht, Joshua und Alyssa zu reproduzieren. Du hast ihnen sogar Vornamen mit denselben Anfangsbuchstaben gegeben.«