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Die Sonne war unter den Horizont geglitten, hatte den Himmel aschefarben zurückgelassen. Ein kühler Wind ließ Bourne in seiner nassen Kleidung zittern. Er stand auf und setzte sich in Bewegung, um die Steifheit aus seinen Muskeln zu bekommen und wieder warm zu werden. Der Wald war von indigoblauen Schatten erfüllt; trotzdem fühlte Bourne sich so exponiert wie auf einer baumlosen Ebene unter einem wolkenlosen Himmel.

Was er getan hätte, wenn er in Tarn Quan gewesen wäre, wusste Bourne: Er hätte sich einen Unterschlupf gesucht, einen sicheren Ort, an dem er rasten und seine Optionen überdenken konnte. Aber in der roten Zone waren Verstecke kaum zu finden; dabei konnte man den Kopf in eine Falle stecken. Er bewegte sich langsam und bedächtig durch den Wald und ließ seinen Blick über einen Baum nach dem anderen gleiten, bis er fand, wonach er suchte. Wilder Wein. Um diese Jahreszeit blühten die Pflanzen noch nicht, aber ihre glänzenden fünf-fingrigen Blätter waren unverkennbar. Mit Hilfe des Schnappmessers löste er vorsichtig mehrere lange Ranken der zähen Pflanze ab.

Als Bourne eben damit fertig war, wurde er auf ein wiederholtes leises Knacken aufmerksam. Er folgte ihm und erreichte bald eine kleine Lichtung. Da! Ein Weißwedelhirsch. Sein Haupt war erhoben, seine schwarzen Nüstern sogen die Luft prüfend ein. Hatte das Tier ihn gewittert? Nein. Es versuchte anscheinend.

Der Hirsch stürmte davon — und Bourne mit ihm. Er rannte parallel zu dem Tier federnd und fast lautlos durch den Wald. Einmal drehte sich der Wind, und er musste seine Richtung etwas ändern, um auf der wind-abgewandten Seite des Hirschs zu bleiben. Sie hatten ungefähr eine Viertelmeile zurückgelegt, als das Tier langsamer wurde. Das Gelände stieg hier leicht an, der Boden war härter, kompakter. Sie hatten den Bach weit hinter sich gelassen, befanden sich am äußersten Rand von Conklins Besitz. Der Hirsch setzte mühelos über die alte Bruchsteinmauer, die hier die Nordwestecke des Anwesens begrenzte.

Als Bourne über die Mauer geklettert war, sah er, dass der Hirsch ihn zu einer Salzlecke geführt hatte. Salzlecken bedeuteten Felsen, und Felsen bedeuteten Höhlen. Er erinnerte sich, dass Conklin ihm einmal erzählt hatte, im Nordwesten grenze sein Besitz an zahlreiche Höhlen mit natürlichen Kaminen, die Indianern einst als Rauchabzüge für ihre Kochfeuer gedient hatten.

Eine Höhle dieser Art war genau das, worauf er hoffte: ein vorläufiger Zufluchtsort, der zwei Ausgänge hatte und deshalb nicht zur Falle werden konnte.

Jetzt hab ich ihn, dachte Chan. Webb hatte einen Riesenfehler gemacht — er hatte die falsche Höhle betreten, eine der wenigen ohne zweiten Ausgang. Chan kroch lautlos aus seinem Versteck, überquerte die kleine Lichtung und huschte in den schwarzen Höhleneingang.

Als er sich anschlich, konnte er Webb vor sich in der Dunkelheit ahnen. Der Geruch dieser Höhle zeigte Chan, dass sie nicht tief war. Ihr fehlte der scharfe Modergeruch von allmählich angesammelter organischer Materie, der für tief in gewachsenen Fels hineinführende Höhlen typisch war.

Vor ihm hatte Webb seine Stablampe eingeschaltet. In wenigen Augenblicken würde er sehen, dass es hier keinen Kamin, keinen Fluchtweg gab. Die Zeit für den Angriff war gekommen! Chan sprang den Gegner an, drosch ihm eine Faust ins Gesicht.

Bourne ging zu Boden. Die Stablampe prallte von den Felsen ab, sodass ihr Lichtstrahl wild durch die Höhle tanzte. Im selben Augenblick glaubte er den Luftzug zu spüren, mit dem eine geballte Faust auf ihn zuschoss. Er wehrte den Boxhieb nicht ab, aber sowie der Arm des anderen ganz gestreckt war, traf er den exponierten und verwundbaren Bizeps mit einem scharfen Handkantenschlag.

Dann warf er sich nach vorn und rammte eine Schulter gegen das Brustbein des anderen Körpers. Ein Knie wurde hochgerissen und traf die Innenseite von Bournes Schenkel, sodass ihn stechende Nervenschmerzen durchzuckten. Er bekam eine Hand voll Kleidung zu fassen, knallte den Angreifer gegen die Höhlenwand. Der Körper prallte ab, rammte Bourne, holte ihn von den Beinen. Sie wälzten sich miteinander verschlungen auf dem Höhlenboden. Er konnte die Atemzüge des anderen hören: ein widersinnig intimes Geräusch, als höre man ein Kind neben sich atmen.

In diesen archaischen Kampf verstrickt, war Bourne dem anderen nahe genug, um eine komplexe Duftmischung zu riechen, die von dem anderen wie Dampf über einem in der Sonne liegenden Sumpf aufstieg und ihn unwillkürlich erneut an den Dschungel von Tarn Quan denken ließ. Im nächsten Augenblick spürte er quer unter seinem Kinn eine Stange. Daran wurde er zurückgerissen.

«Ich bringe dich nicht um«, sagte eine Stimme an seinem Ohr.»Wenigstens nicht gleich.«

Bourne rammte einen Ellbogen nach hinten, was ihm einen Kniestoß gegen seine bereits schmerzende Niere einbrachte. Er krümmte sich schmerzlich zusammen, wurde aber durch die Stange an seiner Luftröhre gestreckt und hochgerissen, bis er auf den Beinen stand.

«Ich könnte dich jetzt umbringen, aber ich tu’s nicht«, sagte die Stimme.»Erst muss es so hell sein, dass ich dir in die Augen sehen kann, während du stirbst.«

«Musstest du zwei unschuldige anständige Kerle ermorden, nur um an mich ranzukommen?«, fragte Bourne.

«Wovon redest du überhaupt?«

«Von den beiden Männern, die du im Haus erschossen hast.«

«Die hab ich nicht umgebracht; ich ermorde keine Unschuldigen. «Ein leises Lachen.»Andererseits weiß ich nicht, ob irgendwer, der mit Alexander Conklin zu tun hatte, >unschuldig< genannt werden kann.«

«Aber du hast mich hierher getrieben«, sagte Bourne.»Du hast auf mich geschossen, damit ich zu Conklin fahre, damit du.«

«Red keinen Unsinn«, unterbrach ihn die Stimme.»Ich bin dir nur hierher gefolgt.«

«Woher hast du dann gewusst, wohin du die Cops schicken musstest?«, fragte Bourne.

«Warum hätte ich sie anrufen sollen?«, knurrte die Stimme schroff.

Obwohl diese Mitteilung verblüffend war, hörte Bourne nur mit halbem Ohr hin. Er hatte sich während des Gesprächs etwas entspannt, sich leicht zurückgelehnt. So lag die Stange nur noch ganz leicht auf seiner Luftröhre. Nun drehte Bourne sich auf den Ballen seiner Füße weg und senkte dabei eine Schulter, sodass der andere sich darauf konzentrieren musste, die Stange in richtiger Stellung zu halten. In diesem Augenblick brachte Bourne einen blitzschnellen Handkantenschlag dicht unter dem

Ohr an. Der Angreifer brach zusammen, und die Stange dröhnte hohl, als sie auf den Felsboden fiel.

Bourne atmete mehrmals tief durch, um wieder klar denken zu können, aber er war vom Sauerstoffmangel noch immer benommen. Er hob die Stablampe auf, beleuchtete die Stelle, wo der andere liegen musste, und sah, dass er verschwunden war. Ein Geräusch, kaum mehr als ein Wispern, drang an sein Ohr, und er hob die Stablampe. Vor dem nur wenig helleren Hintergrund des Höhleneingangs sprang eine Gestalt ins Freie. Als der Lichtstrahl den Unbekannten traf, drehte er sich um, und Bourne sah flüchtig sein Gesicht, bevor der andere unter den Bäumen verschwand.

Bourne rannte hinter ihm her. Im nächsten Augenblick hörte er ein deutliches Knacken und ein lautes Wusch! Dann waren Bewegungen zu hören, und er bahnte sich durchs Unterholz einen Weg zu der Stelle, wo er die Falle aufgebaut hatte. Er hatte die Ranken der Waldrebe zu einem Netz verwoben und es an einen bis fast zum Erboden herab gebogenen jungen Baum gebunden. Damit hatte er den Angreifer gefangen. Der Jäger war zur Beute geworden. Er arbeitete sich zum Waldrand vor und machte sich bereit, seinem Feind gegenüberzutreten und das Rankennetz abzuschneiden. Aber es war leer.